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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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erneut durchs Zimmer, wie von einem inneren Motor angetrieben, der sich nicht abstellen ließ. »Letztendlich spielt es gar keine Rolle, warum wir hier
sind, Ben. Wir sind tot und hier in dieser Stadt im Jenseits, nur darauf kommt es an.«
    »Aber verstehst du denn nicht?« Hörte Benjamin da Hilflosigkeit in seiner Stimme, oder fühlte er sie nur? »Das Warum bestimmt vielleicht unseren weiteren Weg. Du hast die anderen Städte gesehen, Louise. Du weißt, dass es jenseits des Nebels mit den Kreaturen noch viel mehr gibt, dass diese Welt, dieses Jenseits, viel mehr umfasst als nur die Stadt. Vielleicht muss uns klarwerden, was uns hierherbrachte, damit wir zu neuen Ufern aufbrechen können.«
    »›Zu neuen Ufern‹«, wiederholte Louise und schüttelte den Kopf. »Das klingt wie aus einem der Bücher, die du gelesen hast. Und vielleicht stammt auch der Rest aus Büchern. Hast du an diese Möglichkeit gedacht, Ben? Vielleicht hat dein Tod alles durcheinandergewürfelt. Vielleicht hast du irgendwann einmal von jemandem gelesen, der in der Klapsmühle landete, dort einer Gehirnwäsche unterzogen wurde, komplett ausrastete und den ganzen Laden abfackelte. Als du gestorben bist, vermischten sich die Erinnerungen daran mit den anderen, richtigen, und jetzt glaubst du, das alles sei tatsächlich geschehen.«
    »Nein«, sagte Benjamin. Er war sicher, klar zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können. Er glaubte sogar, noch den Geschmack des billigen französischen Cognacs im Mund zu haben. »Es ist so geschehen, wie ich es dir gesagt habe.«
    » Mich hast du nicht umgebracht – das habe ich selbst erledigt, in deinem Traum ebenso wie in meiner Realität. Aber wenn du Recht hast, bist du für den Tod fast aller anderen hier in der Stadt verantwortlich. Lass es sie besser nicht wissen. Sie
sind bereits sauer auf uns, weil wir den Streunern angeblich das Arsenal gezeigt haben und weil der Supermarkt verschwunden ist. Wenn sie erfahren, dass sie wegen dir hier sind, in der Stadt im Jenseits …« Louise ging zum Fenster und zog den Vorhang beiseite. Draußen war es inzwischen Nacht geworden, sah Benjamin, aber im kleinen Park mit den verwelkenden Pflanzen brannten die Lampen.
    »Es ist kalt geworden«, sagte Louise und schaute nach draußen. »Der Winter kommt in diesen Teil der Stadt. Sieh nur, es fallen erste Schneeflocken.«
    Benjamin stand auf. »Lass uns gehen.«
    Louise drehte sich um. »Was, einfach so?«
    »Warum nicht? Immerhin bin ich ein göttlicher Gesandter, oder vielleicht sogar Gott selbst, und wer hält so jemanden auf?«

58
    Als sie durch den Hotelflur gingen, fragte sich Benjamin, ob die Zeit noch immer asynchron war. Stille herrschte; kein einziger Laut kam aus den Zimmern. Und sie begegneten niemandem. Hier und dort standen Türen offen, doch die entsprechenden Räume waren leer.
    »Wo sind alle?«, fragte Louise leise.
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte Benjamin verwundert.
    Es ertönten nicht einmal Geigenklänge, als sie die Treppe hinuntergingen. Überall brannten Lampen – der Generator
hinter dem Gloria lieferte also Strom. War nur der Supermarkt verschwunden und nicht auch die zu ihm gehörende Tankstelle?
    Louise ergriff Benjamins Arm. »Mir ist unheimlich, Ben.«
    Auch im Foyer hielt sich niemand auf. Sie gingen an der Rezeption vorbei, warfen einen Blick in den leeren Speisesaal und den Aufenthaltsraum auf der anderen Seite. Nirgends zeigte sich eine Menschenseele, und Benjamin erschauderte innerlich, als er sich vorstellte, dass die dunkle Gestalt aus dem Labyrinth gekommen war und Hannibal und die anderen fortgebracht hatte. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, aber Louise schien über eine Art sechsten Sinn zu verfügen und zu ahnen, was in ihm vor sich ging.
    »Du denkst an das Monster und die Gläsernen, nicht wahr?«, fragte sie und sprach noch immer leise.
    »Es war kein Monster«, erwiderte Benjamin schwach. »Nicht in dem Sinn.«
    »Du verteidigst es?« Louise richtete einen ungläubigen Blick auf ihn.
    »Ich wollte nur sagen …«
    »Ich habe schon verstanden, Ben«, zischte Louise. »Mir ist auch aufgefallen, dass du das Wesen mit deinem Gesicht vorhin nicht erwähnt hast. Wenn du es gewesen bist, der all die Menschen hierherbrachte, an diesen Ort im Jenseits … Was hat dann jenes Geschöpf mit all dem zu tun?«
    Sie waren stehen geblieben, und Benjamin deutete zum Ausgang. »Lass uns gehen, solange wir Gelegenheit dazu haben.«
    »Du weichst mir

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