Die Stadt - Roman
Gesicht erschien in der Finsternis, vielleicht nur geschaffen von seiner Phantasie – sein eigenes Gesicht.
Benjamin schnappte nach Luft. Die Erinnerungen waren an ihren Platz gerückt und ergaben ein Bild, in dem es kaum mehr Lücken gab und das der Realität entsprach, wie er wusste, den Ereignissen, die tatsächlich stattgefunden hatten. Aber nicht alle Fragen waren beantwortet, und die letzte Wahrheit blieb unberührt.
»Wir sind bereits verurteilt«, sagte Louise.
Benjamin drehte überrascht den Kopf. »Ich habe gedacht, du schläfst.«
»Nein. Meine Gedanken kreisen.« Louise rollte auf die Seite. »Hannibal wird irgendwas Schlimmes mit uns anstellen. In der Hoffnung, dass er damit den Gott oder die Götter der Stadt besänftigt, was auch immer.«
»Selbst wenn er uns umbringt …«, sagte Benjamin. »Die Stadt heilt uns.«
»Ja, aber …«
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Tür schwang auf. Licht vom Flur fiel ins Zimmer, und ein hagerer, kahlköpfiger Mann trat ein, in Kleidung gehüllt, die ihm zwei Nummern zu groß zu sein schien.
»Der Prozess beginnt in einer Stunde, bei Sonnenaufgang«, sagte Hannibal und gab sich Mühe, würdevoll zu sprechen.
»Warum machst du dir überhaupt die Mühe, einen Prozess zu veranstalten?«, erwiderte Louise vom Bett. »Das Urteil steht doch schon fest.«
Hannibal sah sie an. »Dass du dich mit ihm zusammengetan hast, wundert mich nicht. Ihr passt zueinander. Der Zerstörer von Ordnung und Hoffnung, und eine billige …«
Bei den letzten Worten hörte Benjamin ein Zittern in Hannibals Stimme. Er wandte sich ganz vom Fenster ab.
»Weißt du, wer Louise ist, Benjamin? Hat sie es dir gesagt?«
»Ich weiß besser als du, wer sie ist.«
»Glaubst du, Benjamin? Ich habe hier etwas für dich.« Hannibal hielt plötzlich ein lindgrünes Buch in der Hand. »Du solltest dies lesen. Dann weißt du Bescheid über … deine Louise.«
Louise, nur in Hemd und Slip, war mit einem Satz aus dem Bett, stürzte Hannibal entgegen und wollte ihm das Buch aus der Hand reißen, aber er wich zur Seite und warf es Benjamin zu, der es auffing. Sofort wirbelte Louise zu ihm herum.
»Das gehört mir!«, rief sie und lief auf ihn zu. »Es ist mein Leben!«
Benjamin reichte ihr das lindgrüne Lebensbuch, ohne es aufgeschlagen zu haben.
»Sie ist eine Hure, Benjamin«, sagte Hannibal. »Sie ist die Tochter einer Hure, die nie erfahren hat, wer ihr Vater war, und als Hure hat sie ihr elendes Leben verbracht, bis sie ihm selbst ein Ende setzte.« Er öffnete die Tür. »Eine Stunde«, betonte er noch einmal und ging. Erneut drehte sich der Schlüssel im Schloss.
Louise saß auf dem Bett, das Lebensbuch in beiden Händen, und Tränen rannen ihr über die Wangen, ohne dass sie einen Ton von sich gab.
»Verdammtes Arschloch«, sagte sie schließlich. Nach einigen Sekunden fügte sie hinzu: »Damit meine ich nicht dich, sondern ihn.«
»Wer auch immer wir im Leben gewesen sind, Louise …«, sagte Benjamin langsam und spürte, dass er eine tiefe Wahrheit in Worte fasste. »Hier, im Tod, können wir jemand anders sein. Wir können alles hinter uns lassen.«
Louise schniefte leise. »Das hast du schön gesagt, Ben. Und vielleicht hast du sogar Recht. Aber Hannibal ist trotzdem ein verdammtes Arschloch.«
59
Der Prozess begann im Speisesaal des Hotels, als draußen tauender Schnee im Licht der emporsteigenden falschen Sonne glitzerte. Die Tische waren so aufgestellt, das mehr als zweihundert Zuschauer zu beiden Seiten und hinten im Raum
sitzen konnten. Im vorderen Drittel des großen Raums bildeten mehrere Tische eine Reihe für Anklage und Verteidigung, und ganz vorn stand eine Art Richterpult. Die Gemeinschaft hatte sich bereits versammelt, und als Benjamin zusammen mit Louise hereingeführt wurde, sah er auch einige Streuner, die rechts und links hinter den Tischen an den Wänden standen – sie schienen keine Gefangenen zu sein. Dago und Jasmin befanden sich nicht unter ihnen, aber er bemerkte Rebecca, die nicht mehr so dick war und ihm einen finsteren Blick zuwarf. Ihr Anblick erinnerte ihn an Laslo, und für einen Moment fragte er sich, was aus ihm geworden war.
Gemurmel setzte ein, als Benjamin und Louise durch den Saal geführt wurden, und die Stimmen schwollen an, bis Hannibal schließlich einen Holzhammer nahm und damit aufs Pult klopfte.
»Ruhe im Gerichtssaal!«, rief er und klopfte erneut. »Ruhe!« Als es still geworden war, deutete er auf die
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