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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Gemeinschaft zurückgekehrt waren. Und Caspar, der versprochen hatte, dass Benjamin jederzeit auf ihn zählen konnte – jetzt lag tiefe Enttäuschung in seinem Blick. Sie alle starrten stumm, während sich Hannibal und Abigale näherten.
    »Ihr hattet eure Chance«, sagte Hannibal ernst. »Ihr habt sie nicht genutzt.«
    »Ich kann den Supermarkt nicht zurückholen!«, stieß Benjamin hervor. »Ich habe ihn nicht verschwinden lassen.«

    »Es hat mit dir begonnen«, sagte Abigale traurig. »Und es wird mit dir enden.«
    »Was soll das heißen? He!«, entfuhr es Benjamin, als Katzmann und ein zweiter, immer noch recht kräftig gebauter Mann vortraten und ihn packten. Zwei andere Gemeinschaftsglieder ergriffen Louise an den Armen. »Sie hat mit dieser Sache überhaupt nichts zu tun!«, sagte Benjamin schnell. Dann wurde ihm klar, wie sich das anhörte, und er fügte rasch hinzu: »Und ich auch nicht.«
    Am linken Straßenrand löste sich eine Gestalt aus der Menge. Sie trug einen grünen Lodenmantel, der ihr fast bis zu den Füßen reichte; ihr blasses Gesicht war eine Faltenlandschaft, die Knollennase über dem dünnlippigen Mund gerötet. Die anderen Gemeinschaftsmitglieder machten dem greisenhaften Mann respektvoll Platz.
    »Dies ist ein Fehler, Hannibal«, sagte Laurentius.
    »Ich habe einen Fehler gemacht, als ich auf dich gehört und ihm diese letzte Chance gegeben habe. Er hätte noch einmal entkommen können.«
    »Er wäre tatsächlich in der Lage, den Supermarkt zurückzubringen«, sagte Laurentius.
    »Das ist doch Blödsinn!«, rief Benjamin und versuchte vergeblich, sich aus dem Griff der beiden Männer zu befreien.
    »Ganz und gar nicht, mein Junge. Du könntest den Supermarkt zurückbringen, du weißt es nur nicht.« Laurentius musterte ihn kurz und wandte sich dann an Hannibal. Der Schnee fiel dichter und schneller. »Lass ihn gehen, Hannibal. Benjamin ist kein Bote des Bösen.«
    »Wir werden über ihn richten«, verkündete Hannibal und
hob die Stimme. »Wir werden die Fakten prüfen und dann entscheiden.«
    »Oh, mit den Fakten ist das so eine Sache«, erwiderte Laurentius und stimmte ein meckerndes Lachen an. Er drehte sich um, ging an Benjamin vorbei und sagte leise: »Du hättest die Stadt verlassen sollen, als du Gelegenheit dazu hattest, mein Junge.«

    Sie verbrachten die Nacht im Hotel, in einem Zimmer im zweiten Stock. Während es draußen friedlich schneite – der Schnee fiel ruhig, ungestört von Wind –, zogen die traurigen Klänge einer Geige durch das große Gebäude. Benjamin versuchte sie zu ignorieren und sich seine Gelassenheit zu bewahren, aber das wurde immer schwerer, als eine Stunde nach der anderen verging, ohne dass Schlaf kam. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, im Bett zu liegen, stand leise auf, setzte sich ans Fenster und beobachtete den Schnee, der die Stadt in eine weiße Decke hüllte und sie unschuldig wirken ließ. Der Eindruck täuschte. Es war keine Stadt der Unschuld, sondern ein Gefängnis, wie die beiden anderen, die er zu Lebzeiten kennengelernt hatte – die reguläre Strafanstalt und das Institut. Und nun saß er in diesem großen, besonders perfiden Gefängnis in einer Zelle und wartete darauf, dass man ihn zu einer Verhandlung abholte, die nur eine Farce sein konnte.
    Im Licht der Lampen, die nun wieder im kleinen Park vor dem Gloria leuchteten, beobachtete er den fallenden Schnee und verglich die einzelnen Flocken mit Seelen, Kräften ausgesetzt, die sie nicht verstanden und gegen die sie nichts ausrichten konnten. Hannibal glaubte, die Kräfte zu kennen, die das Schicksal der Seelen bestimmten, und er agierte auf der
Grundlage dieser Überzeugungen. Er blieb kohärent in seiner besonderen Form des Wahns, in der es für andere Erklärungen der Welt keinen Platz gab.
    Noch immer wehten leise Geigenklänge durchs Hotel, und Benjamin stellte sich den Geiger vor, wie er den Bogen langsam über die Saiten zog. Und Velazquez an seiner Leinwand. Und Mikado mit seinem Walkie-Talkie. Und all die anderen, die hier eine Nische für sich gefunden hatten, für ihr Leben im Jenseits, jeder von ihnen mit eigenen Gedanken, Ideen und Theorien über das Leben nach dem Tod.
    Am Rande des Lichtscheins, dort, wo das Weiß des frisch gefallenen Schnees in die Dunkelheit der Nacht überging, bewegte sich etwas, und für einen Moment glaubte Benjamin, eine dunkle Gestalt zu erkennen, groß, den Rücken gebeugt, die Arme unterschiedlich lang, nackt und ohne Geschlecht. Ein

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