Die Stadt - Roman
Richterpult. »Als Benjamin, der übrigens noch immer seinen alten Namen trägt und es nicht für nötig hielt, sich einen neuen zu geben … Als er in der Stadt ankam, haben wir ihn großzügig in unsere Gemeinschaft aufgenommen. Er wurde auf die Regeln hingewiesen, die unser Zusammenleben bestimmen …«
»Einspruch, Euer Ehren!«, rief Laurentius, der noch immer stand und grinste, als hielte er die ganze Sache für einen Riesenspaß. »Wie kann man von Zusammen leben sprechen, obwohl wir doch alle wissen, dass wir tot sind?«
Der vorsitzende Richter – der Mann mit dem Rollkragenpullover – wollte mit dem Hammer aufs Pult schlagen, aber Hannibal ignorierte Laurentius’ Worte einfach und fuhr fort:
»… und die uns dabei helfen sollen, das Gute zu mehren und das Böse zu tilgen, auf dass wir alle diesen Limbus verlassen und das Paradies erreichen können, um dort ein ewiges Leben zu führen, glücklich und ohne Not.« Hannibal betonte das Wort »Leben« und bedachte den immer noch
grinsenden Laurentius dabei mit einem strengen Blick. »Aber Benjamin hat unsere Großzügigkeit von Anfang an ausgenutzt und gegen die Regeln verstoßen, ganz offensichtlich mit der Absicht, Unruhe in unsere Gemeinschaft zu bringen. Schon kurz nach seiner Ankunft hat er sich ins Labyrinth geschlichen, obwohl er um das Verbot wusste, und wir alle kennen die Konsequenzen: Etwas erwachte in den dunklen Tiefen, etwas, das Mauern durchbrach und Brüder und Schwestern von uns entführte. Caspar und Emily haben es gesehen, nicht wahr?«
Hannibal blieb stehen und sah in Richtung Eingang des Speisesaals. Die an einem der Tische sitzende Apothekerin stand auf. »Ja, das stimmt«, sagte sie ernst. »Ich habe gesehen, wie das … Ding Frederika packte und mit ihr verschwand.«
»Und du, Caspar?«
Der Mann, der Benjamin Hilfe versprochen hatte, wenn er sie brauchte, stand nicht weit entfernt und nickte kummervoll. »Ich habe es ebenfalls gesehen.«
»Dieses dunkle Geschöpf, das unsere Frederika verschleppte, und vermutlich auch die anderen … Könnt ihr uns sein Gesicht beschreiben?«
»Es hatte Benjamins Gesicht.«
Ein Raunen ging durch die Menge, als hätte jemand die Fenster für den Wind geöffnet, und Benjamin spürte Dutzende von Blicken im Nacken.
»Es läuft nicht gut«, flüsterte er Laurentius zu, der nach wie vor glückselig lächelte, während Kowalski an seinen Instrumenten hantierte, auf Skalen blickte und den Kopf schüttelte.
»Was hast du erwartet?«, erwiderte Louise ebenso leise.
Der Gedanke an Flucht kam Benjamin in den Sinn, verschwand
aber sofort wieder – er wusste nur zu genau, dass jeder Versuch in dieser Richtung sinnlos gewesen wäre.
Hinter dem Pult rutschte Velazquez unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Der Mann mit dem Rollkragenpullover ließ sich die gute Gelegenheit nicht entgehen und schlug mit dem Hammer.
»Ruhe im Gerichtssaal!«, rief er, sich plötzlich seiner Autorität bewusst.
Hannibal nahm die Wanderung vor dem Pult wieder auf. »Zuerst habe ich Benjamin für jemanden gehalten, den Dago zu uns geschickt hat.« Er sah zu den Streunern auf der einen Seite des Saals und deutete eine Verbeugung an. »Das war zur Zeit des Zwistes, wie wir alle wissen, bevor uns die Tragik nach dem Verschwinden des Supermarkts zusammenführte. «
Louise schnaufte leise, aber doch laut genug, dass Hannibal sie hörte.
»Vielleicht erinnern sich einige von euch an die seltsamen Blicke, die Dago und Benjamin beim Gefangenenaustausch auf dem Konkordatsplatz wechselten. Sie schienen sich zu kennen, obwohl sie sich eigentlich gar nicht kennen konnten – immerhin war Benjamin gerade erst in der Stadt eingetroffen. Aber inzwischen wissen wir alle, dass Benjamin viel mehr ist, dass er etwas weitaus Schlimmeres darstellt. Er ist ein Gesandter des Bösen.«
»Hört, hört!«, rief jemand.
»Einspruch, Euer Ehren.« Laurentius wandte sich lächelnd ans Richter-Trio. »Das sind nichts weiter als abergläubische Spekulationen.«
»Einspruch stattge…«, begann Velazquez.
»Einspruch abgelehnt !«, entschied der Mann mit dem Rollkragenpullover und ließ den Hammer aufs Pult knallen. Hannibal belohnte ihn mit einem zufriedenen Nicken. Dann drehte er sich ruckartig um und richtete den Zeigefinger auf Benjamin. »Das Böse hat diesen Mann zu uns geschickt!«, donnerte er. »Um uns von unserem Weg zum Paradies abzubringen. Um …«
»Einspruch!« Laurentius hob beide Arme, und Kowalski hob mit gerunzelter Stirn den
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