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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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oder vor ihm in der leeren Luft leuchteten – alles war perfekt aufeinander abgestimmt. Hannibals Bewegungen und Stimme bekamen etwas Hypnotisches, wenn es ihm gelang, die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu fesseln, doch der Prediger erzielte eine Wirkung, die noch tiefer ging und die Seele zu berühren schien.
    »Hast du nicht gesagt, dass der Prediger in allen Kirchen und Tempeln der Stadt spricht, dabei aber nur wenige Zuhörer hat?«, flüsterte Benjamin Louise zu.
    »Bei seinen Predigten schwafelt er wirres Zeug«, erwiderte sie. »Dies ist eine gut vorbereitete Show.«
    Eine Show. Plötzlich erinnerte sich Benjamin an einen Nachmittag im Institut, an einen Mann, der zu Besuch gekommen und im großen Saal aufgetreten war, wo sich alle versammelt hatten. Der Erhabene Antonius, so hatte er sich genannt. Gekleidet in ein glitzerndes Gewand, das immer wieder die Farbe wechselte, hatte er die Zuschauer, Patienten wie Pfleger, mit seinen Zauberkunststücken verblüfft.
    Antonius, der Zauberkünstler. Und hier war ein Prediger aus ihm geworden, jemand, der die Zuschauer mit scheinbarer Magie verblüffte und ihre Seelen beeinflusste. Die Gasexplosion im Keller des Instituts, das Feuer, die hungrigen Flammen, die das ganze Gebäude gefressen hatten … War Antonius zu jenem Zeitpunkt im Institut gewesen? Die Seelen sind miteinander verbunden, erinnerte sich Benjamin an Laurentius’ Worte und fragte sich, was das in diesem Zusammenhang bedeutete.
    »Ich bin in den Kirchen und Tempeln der Stadt gewesen«, sagte der Prediger mit sonorer Stimme. »Ich habe um Erleuchtung gebetet.« Ein kurzer Wink mit der rechten Hand,
und eine kleine Sonne ging über seinem Kopf auf. Für zwei oder drei Sekunden strahlte sie hell und schien mit der falschen Sonne zu wetteifern, die draußen den Schnee schmolz. Dann erlosch sie, und einige funkelnde Stäubchen senkten sich aufs Haupt des Predigers. »Ich habe die Stimme der Macht gehört und weiß: Um das Chaos aus der Stadt zu vertreiben, muss der Verursacher des Chaos aus ihr verschwinden. Der Supermarkt kehrt nur zurück, wenn Benjamin und Louise uns verlassen, für immer.«
    »Das ist genau das, was wir wollen«, sagte Benjamin erstaunt.
    Hannibal achtete nicht auf ihn. »Was schlägst du vor?«, fragte er den Prediger.
    Der Mann mit dem schwarzen Talar und dem trichterförmigen Hut auf dem Kopf breitete die Arme aus. »Es gibt nur eine Lösung für das Problem, und nur eine gerechte Strafe: das Loch.«
    Benjamin hörte, wie Louise nach Luft schnappte.
    Hannibal wandte sich dem Pult zu und deutete eine Verbeugung an. »Dem habe ich nichts hinzuzufügen, Hohes Gericht.« Er kehrte zu Abigale zurück. Der Prediger folgte ihm und nahm ebenfalls am Tisch der Anklage Platz.
    Der vorsitzende Richter blinzelte mehrmals. »Das Wort hat die Verteidigung«, sagte er dann und fügte seinen Worten ein Hammerklopfen hinzu.
    Benjamin richtete einen erwartungsvollen Blick auf Laurentius, der einige Schritte vortrat, tief Luft holte und sagte:
    »Mein Mandant … ist unschuldig.«
    Das Richter-Trio wartete.
    »Er hat nichts getan«, fügte Laurentius hinzu und lächelte.
    »Das ist alles?«, fragte der vorsitzende Richter und hielt den Hammer bereit. »Hast du keine Beweise für seine Unschuld ?«
    »Wie soll ich beweisen, dass er nichts getan hat?«, entgegnete Laurentius. Er sah zu Kowalski, der noch immer an seinen klickenden und klackenden Apparaten hantierte, wandte sich dann an Benjamin und sagte: »Ich kann leider nichts mehr tun. Es ist, wie es ist.«
    Dann griff er in die Manteltasche und fragte: »Möchte jemand einen Apfel?«

Das Loch

60
    Es wurde kälter, als sie sich dem Loch näherten. Benjamin zerrte ein letztes Mal an dem Strick, mit dem seine Hände auf den Rücken gefesselt waren. Neben ihm schien Louise mit jedem Schritt bleicher zu werden, und wenige Meter vor der Absperrung blieb sie stehen.
    »Weiter«, knurrte Hannibal. Der Mann hinter Louise gab ihr einen Stoß, nicht grob, aber auch nicht sanft, und sie wankte nach vorn, der Barriere aus Brettern, Latten, Eisenstangen und verrosteten Blechen entgegen. Eine dünne Schicht aus Raureif hatte sich darauf gebildet und glitzerte im Licht der untergehenden Sonne. Dahinter öffnete sich das schwarze Maul des Lochs.
    Vor ihnen ging der Prediger, der jetzt einen dicken Mantel über seinem Talar trug und ein rundes Gefäß an einer langen Kette schwang. Rauch kam daraus hervor, und immer wieder murmelte er etwas. Vielleicht

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