Die Stadt - Roman
bleiben. Das Licht der Hoffnung kann auch in finsterster Nacht leuchten.«
»Nicht wenn es jemand auspustet«, sagte Louise.
Benjamin beugte sich vor. »Wie ist es euch ergangen, Kowalski ? Was ist mit den anderen? Wie bist du zurückgekehrt.«
Kowalski hatte mehrere Instrumente aufgestellt, sie miteinander verbunden und Pendel in Bewegung gesetzt, die in einem ruhigen Rhythmus klickten und klackten. Er hob sein Katastrophenmeter und sah auf die Anzeige. »Elf auf der positiven Skala. Elf! Was? Oh, ich weiß nicht, was aus den anderen geworden ist, mein lieber Benjamin. Als ich wieder zu mir kam, lag ich irgendwo im Sumpf, zum Glück in der Nähe eines Flusses. Noch mehr Glück wollte es, dass ein Floß am Ufer lag. Fluss plus Floß gleich Rückkehr zur Stadt.« Er lächelte, und sein Lächeln wirkte fast so irr wie das des Alten im grünen Lodenmantel. Vielleicht haben sie zusammen Apfelkerne geraucht, dachte Benjamin. »Unterwegs habe ich den Prediger aufgegabelt, als ein betendes Häufchen Elend.
Im Gerippe eines Baums. An den Resten eines Fallschirms hängend.«
»Du hast vergessen, dass ich euch geholfen habe«, sagte Laurentius.
»Du bist im Sumpf gewesen?«, entfuhr es Benjamin. »Du hast die Stadt verlassen, durch den Nebel?«
Laurentius verzog andeutungsweise das Gesicht. »Nicht so laut, mein Junge. Oder willst du, dass uns alle hören?«
»Seid ihr so weit?«, rief der einige Meter entfernt stehende Hannibal.
»Gleich, gleich«, erwiderte Kowalski nervös. »Ich muss der Anordnung nur noch einen Zufallsmesser hinzufügen.«
Benjamin sah kurz zur Seite und stellte fest, dass Abigale am Tisch der Verteidigung Platz genommen hatte.
Während Kowalski mit Messingstangen und kleinen Schwungrädern hantierte, trat Laurentius etwas näher. »Ich kenne Wege, mein lieber Benjamin.«
»Einen davon hättest du mir zeigen können«, zischte Benjamin.
»Habe ich auch. Oder hast du den Ballon vergessen?«
»Ich meine …«
»Das reicht jetzt!« Hannibal hob die Hand. »Als Vertreter der Anklage greife ich ebenfalls auf die Hilfe eines Assistenten zurück.«
Benjamin dachte zuerst, dass er Abigale meinte, aber neuerliche Unruhe im Saal wies auf einen Neuankömmling hin. Es war ein kleiner Mann, in einen pechschwarzen Talar gekleidet ; auf dem Kopf trug er einen trichterförmigen Hut aus blauem Samt, wie ein Zaubererhut mit Sternen und Monden besetzt. Dutzende von unterschiedlich langen und dicken
Ketten, offenbar aus Gold und Silber, hingen an dem dünnen Hals des schmächtigen Mannes, an dem der Kehlkopf wie eine Geschwulst wirkte. In der rechten Hand hielt er eine Art Zepter, in der linken einen großen runden Schild, der zahlreiche verschiedene religiöse Symbole zeigte: Kreuze, die neunzackigen Sterne des Bahaismus, das aus dem Buddhismus stammende achtspeichige Rad der Lehre, das Om des Hinduismus, den Halbmond des Islam, die Menora, den siebenarmigen Leuchter der jüdischen Liturgie, das Agnus Dei des Christentums und viele andere – Benjamin kannte sie aus den Büchern, die er gelesen hatte. Gesäumt waren sie von Ranken, die aus miteinander verschlungenen Armen bestanden, was vermutlich Gemeinschaft, Versöhnung und Verbundenheit bedeuten sollte.
Obwohl Benjamin den Mann zum ersten Mal sah, wusste er doch, um wen es sich handelte.
»Ich nehme an, das ist der Prediger, von dem du mir erzählt hast«, flüsterte er Louise zu. Sie nickte nur.
Hannibal nahm den Prediger beiseite und wechselte einige leise Worte mit ihm. Dann setzten sie sich beide an den Tisch der Anklage, und Hannibal nickte dem Richter-Trio am Pult zu. »Wir sind so weit.«
Die drei Richter, unter ihnen Velazquez, berieten sich kurz, und schließlich räusperte sich der Mann mit dem dicken Rollkragenpullover.
»Äh, die Verhandlung ist eröffnet«, sagte er und klopfte versuchsweise mit dem Hammer aufs Pult. »Das Wort hat die Anklage.«
Hannibal war sofort wieder auf den Beinen und trat hinter dem Tisch der Anklage hervor.
»Das Gericht hat sich heute hier versammelt, um über den Mann zu richten, der Unheil über unsere Stadt gebracht hat und für das Verschwinden des Supermarkts verantwortlich ist«, begann er.
»Einspruch, Euer Ehren!«, rief Laurentius und stand auf. »Es steht keineswegs fest, dass Benjamin Unheil über die Stadt brachte.«
»Das Wort hat die Anklage«, betonte Hannibal. »Die Verteidigung hat später Gelegenheit, ihren Standpunkt darzulegen.«
Er begann mit einer langsamen Wanderung vor dem
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