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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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verlogene kleine Welt glaubte. Ein kleingeistiger Mann, der sich groß gab, und der mit jedem Anhänger schrumpfte, den er verlor.
    Laurentius hörte ihm zu, ohne ein einziges Mal Einspruch zu erheben. Er grinste nicht mehr, schien sich aber noch immer zu amüsieren; ab und zu lag ein hintergründiges Lächeln auf seinen Lippen.
    »Wir haben Benjamin Gelegenheit gegeben, den Supermarkt zurückzubringen und damit seine Sündigkeit zu überwinden«, betonte Hannibal. »Ihr wisst, dass Laurentius zu mir und Abigale kam und meinte, Benjamin sei unschuldig und in der Lage, den Supermarkt zurückzubringen. Wir alle kennen Laurentius. Er ist der Älteste in der Stadt; er ist von uns allen am längsten hier. Er verdient Respekt, und deshalb beschlossen wir, Benjamin eine Chance zu geben. Und was hat er getan?«
    »Er wollte fliehen!«, erklangen mehrere Stimmen im Saal.
    »Ja, er wollte fliehen, und damit bewies er endgültig seine Schuld!«
    Benjamin sprang auf. »Ich wollte fliehen, weil ich genau das hier befürchtet habe, eine Farce!«
    Der Mann mit dem Rollkragenpullover knallte den Hammer aufs Pult.
    »Der Angeklagte hat zu schweigen, solange das Gericht keine direkte Frage an ihn richtet. Sein Verteidiger spricht für ihn.«

    »Wenn er denn spricht und nicht einfach nur lächelt«, brummte Louise.
    »Die Anklage hat ihren Fall fast vollständig vorgetragen«, verkündete Hannibal und ging zu seiner Seite der vorderen Tischreihe. »Das Wort hat nun der Prediger, der uns erklären wird, welche Strafe notwendig ist, damit die Macht, die uns nach unserem Tod in diese Stadt brachte, wieder wohlwollend auf uns herabsieht.«
    »Ein funktionierender Supermarkt ist für dich göttliches Wohlwollen?«, sagte Benjamin, der noch immer stand. »Und als der Supermarkt noch da war und sich seine Regale immer wieder füllten, da hast du es für richtig gehalten, Dagos Streuner hungern zu lassen. Ein beeindruckendes Beispiel von Nächstenliebe und Barmherzigkeit!«
    »Der Angeklagte soll schweigen!«, ereiferte sich der vorsitzende Richter und klopfte mit dem Hammer.
    »Und gibt es nicht ein himmlisches Gebot, das Lügen verbietet, Hannibal?«, fuhr Benjamin fort und versuchte, nicht auf die immer lauter werdenden Hammerschläge zu achten. »Aber du hast die Gemeinschaft belogen, als du immer wieder behauptet hast, es gäbe nichts außerhalb des Nebels mit den Kreaturen. Da draußen gibt es sehr wohl etwas. Andere Städte. Wir haben sie gesehen, vom Korb eines aufgestiegenen Heißluftballons. Dort draußen gibt es andere Städte und andere Menschen. Wie passt das in dein Bild vom Jenseits, Hannibal? Und das dunkle Wesen, das Mauern im Labyrinth durchbricht … Es hat schon vor sechzig Jahren welche durchbrochen, als ich noch nicht in der Stadt war. Ich habe nichts damit zu tun.«
    Benjamin wusste nicht, warum er dies sagte. Vielleicht war
es der Wunsch, die Wahrheit zu beeinflussen oder ihr zu entkommen.
    »Warum hat es dann dein Gesicht?«, fragte Abigale in die Stille. »Kannst du uns das erklären, Benjamin?«
    »Frag nicht mich, sondern jenes Wesen, was auch immer es ist!«
    Der Prediger stand mit klirrenden Ketten auf und hob das Zepter. Die Hände vollführten rollende Bewegungen, und Karten erschienen zwischen seinen Fingern.
    »Ich habe Tarot- und Kipperkarten betrachtet«, sagte er, und bunte Karten flogen durch die Luft, von einer Hand zur anderen. Ein kurzer Wink ließ sie wie durch Magie verschwinden. »Ich habe den Glanz der Perlen der Weisheit gesehen«, fuhr der Prediger fort. Plötzlich lösten sich kleine leuchtende Kugeln von der linken Hand, schwebten wie von unsichtbaren Fingern getragen und sanken der rechten Hand entgegen. »Ich habe die Schnüre der Zukunft geworfen und beobachtet, welche Knoten sie binden.« Ein Gewirr aus Linien entstand in der Luft, und jede von ihnen, dünn wie ein Haar, bewegte sich einer Schlange gleich. Hier und dort bildeten sich glitzernde Knoten. Einige Sekunden lang hingen sie vor dem Prediger in der Luft, verschwanden dann mit einem leisen Knistern, das man vermutlich bis in die hintersten Reihen hörte – es war mucksmäuschenstill im Saal. Der vorsitzende Richter gaffte, halb übers Pult vorgebeugt, und schien seinen Hammer vergessen zu haben.
    Selbst Benjamin konnte sich einer gewissen Faszination nicht erwehren. Die Bewegungen des Predigers, Tonfall und Lautstärke seiner Stimme, das Flackern und Leuchten der Gegenstände, die zwischen seinen langen, agilen Fingern

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