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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Blick von einer Instrumentenanzeige, die ihm besondere Sorge zu bereiten schien. »Wenn das Böse Benjamin geschickt hat, so trifft ihn keine individuelle Schuld, weil er nur im Auftrag handelt. Und da es ihm ganz offensichtlich gelungen ist, euch vom Weg zum Paradies abzubringen, kann es mit dem Guten in der Gemeinschaft nicht weit her gewesen sein, meinst du nicht?«
    Hannibal holte tief Luft.
    »Du gibst also zu, dass Benjamin uns im Auftrag des Bösen Unheil brachte?«
    »Nun …« Laurentius schien nach geeigneten Worten zu suchen.
    »Was ist das denn für eine Verteidigung?«, entfuhr es Louise.
    »Gibst du zu, dass er den Streunern das Arsenal zeigte, damit sie uns angreifen und den Supermarkt erobern konnten ? Gibst du zu, dass es letztendlich Benjamin war, der den Supermarkt verschwinden ließ und uns damit alle in diese … wenig erfreuliche Situation brachte?«
    Stille folgte. Velazquez verzog wie gequält das Gesicht. Der Mann mit dem Rollkragenpullover beugte sich vor, den Hammer gehoben. Die junge Frau an seiner Seite, die Benjamin
an Frederika erinnerte, wirkte völlig verunsichert. Die Zuschauer im Saal warteten gespannt.
    Die Stille dauerte an, und Benjamin hatte das Gefühl, dass sich der Moment in die Länge zog, wie bei der Ausbreitung des weißen Leuchtens vom Supermarkt durch die Stadt. Ein Moment gedehnter Zeit, dachte er, wie abseits der Ereignisse. Kowalski hätte seine Freude daran gehabt. Diesmal glitzerte und gleißte nichts, aber Benjamins Gedanken schienen mehr Zeit zu haben, sich zu entfalten und neue Verbindungen zu knüpfen. Er fragte sich, wer Hannibal in der anderen Welt gewesen war. Hannibal und Abigale … Er hatte sie für Townsend und Vivian gehalten, obwohl es auffällige Unterschiede gab, nicht nur im Aussehen, sondern auch im Wesen, und im Gefühl, das sie ihm vermittelten. Aber wenn nicht Townsend, wer war Hannibal dann gewesen? Hatte er zu jenen gehört, die im Institut Opfer der Flammen geworden waren? Oder kam er von ganz woanders? Und die anderen … Er ließ den Blick durch den Saal streichen. Mikado und Katzmann, Rebecca, Caspar, die Apothekerin Emily, all die anderen … Wer waren sie gewesen? Welche Namen hatten sie in der anderen Welt getragen, welches Leben geführt? Erinnerte sich niemand von ihnen? Erkannte ihn niemand?
    »Äh, Laurentius …«, sagte Kowalski verlegen.
    »Gibst du es zu?«, rief Hannibal. Er war etwas näher gekommen, wahrte jedoch einen respektvollen Abstand zu dem Alten.
    »Ich gebe überhaupt nichts zu«, verkündete Laurentius. »Mein Mandant ist unschuldig. Er …«
    »Laurentius!«, zischte Kowalski.
    »Was ist denn?«

    »Die Anzeigen! Sieh sie dir an.«
    Aufgeregt deutete Kowalski auf Zeiger, die über Skalen zitterten, und die beiden Männer tuschelten miteinander.
    »Was gibt es da zu flüstern?«, fragte Hannibal verärgert.
    Laurentius und Kowalski wechselten einen ernsten Blick. Schließlich sagte der greisenhafte Mann im grünen Lodenmantel : »Ich kann die Wahrheit nicht leugnen.«
    »Wie bitte?«, stieß Louise hervor.
    »Was?« Hannibal schien ebenso überrascht zu sein wie sie. Mit einigen schnellen Schritten war er bei den Instrumenten und betrachtete die klickend schwingenden Pendel. »Was ist los? Was zeigen die Apparate an?« Und als Kowalski nicht sofort antwortete: »Heraus damit, Mann!«
    »Sie zeigen Chaos an«, sagte Kowalski. »Und im Zentrum dieses Chaos befindet sich Benjamin.«
    »Na bitte!«, triumphierte Hannibal. »Ich habe es gewusst!« Er kehrte zum Richterpult zurück, drehte sich um und sprach zum Publikum. »Benjamin steht im Zentrum des Chaos, das uns heimgesucht hat. Er trägt, wenn nicht die Schuld, so doch die Verantwortung.«
    »Und ich dachte, du wolltest uns helfen«, wandte sich Louise vorwurfsvoll an Kowalski, während Hannibal wortgewaltig erklärte, warum Benjamin – und auch Louise – unbedingt bestraft werden mussten.
    »Ich wollte euch helfen«, erwiderte Kowalski betreten. »Aber die Instrumente messen, was sie messen. Dies ist Wissenschaft, meine Liebe. Tut mir leid.«
    Benjamin beobachtete Hannibal, wie er redete und gestikulierte. Was er hörte und sah, war Bigotterie. Dort sprach jemand, der das Gute beschwor und das Böse verdammte, ein
Mann, der in einer Frau, die im Leben eine Hure gewesen war, leichte Beute gesehen hatte, jemand, der sich in seiner Rolle als Oberhaupt, ja als Retter der Gemeinschaft gefiel, sich in der eigenen Wichtigkeit sonnte und wahrscheinlich sogar an seine

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