Die Stadt - Roman
Gemeinschaftsmitglieder, die mit Körben durch den Saal gingen. »Wenn jeder von euch einen Zettel bekommen hat, nehme ich selbst drei aus diesem Korb hier und lese die darauf geschriebenen Zahlen vor. Wer von euch die betreffenden Zahlen gezogen hat, ist damit zum Richter berufen.«
Erneut breitete sich Unruhe aus. Männer und Frauen tuschelten miteinander. Wer keinen Sitzplatz gefunden hatte, stand hinten im Saal oder zu beiden Seiten. Alle Mitglieder der Gemeinschaft schienen anwesend zu sein, und auch viele Streuner. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen waren nicht mehr so groß, fand Benjamin, als er sich zusammen mit Louise an einen Tisch setzte, auf dem ein Schild mit der krakeligen Aufschrift »Die Angeklagten« stand.
Als die Gemeinschaftsmitglieder mit den Körben ihre Runde gemacht hatten, zog Hannibal Zettel aus dem Korb auf dem Pult und verlas die Zahlen. Die ersten beiden Gemeinschaftsmitglieder, die aufstanden und nach vorn kamen, kannte Benjamin nicht: ein Mann mit schütterem Haar und Stoppelbart, gekleidet in eine schmutzige Arbeitshose und einen dicken Rollkragenpullover, und eine junge Frau, nicht älter als zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig, die Benjamin an Frederika erinnerte, obwohl ihr Haar nicht blond war, sondern schwarz wie die Finsternis im Labyrinth. Der dritte Richter war Velazquez, und er sah alles andere als erfreut aus. Als er an den Tischen vorbeiging, warf er Benjamin einen entschuldigenden Blick zu. Dann wandte er sich Hannibal zu und hob beide Hände, an denen sich Farbflecke zeigten.
»Ich bin nicht der Richtige für diese Aufgabe«, sagte er, und es klang fast gequält. »Benjamin war mein Zimmergenosse, wenn auch nur für kurze Zeit. Er ist mir ein Freund geworden. Ich kann nicht objektiv urteilen.«
»Umso besser«, erwiderte Hannibal und winkte ihn zum Richterpult. »Ich vermute, der Angeklagte weiß einen Freund im Richter-Trio zu schätzen.«
»Ganz gleich, wie sehr er sich für uns einsetzt«, flüsterte Louise Benjamin zu. »Das Urteil steht fest.«
»Ich übernehme die Anklage«, verkündete Hannibal, als die drei Richter am Pult Platz genommen hatten, mit Velazquez in der Mitte. »Wer ist bereit, die Angeklagten zu verteidigen?«
Den Worten folgte Stille im Saal. Köpfe drehten sich, und auch Benjamin sah sich um. Schließlich trat jemand vor, der
neben der Tür gestanden hatte, ein greisenhafter Mann in einem grünen, fußlangen Lodenmantel.
»Ich übernehme die Verteidigung«, sagte Laurentius, und ein Murmeln ging durch den Saal. Selbst Hannibal wirkte überrascht. »Zusammen mit einem Assistenten, wenn ihr gestattet. « Er reckte den Hals. »Ich fürchte nur, er ist ein wenig spät dran.«
Es kam Bewegung in die Männer und Frauen, die im Eingang des umfunktionierten Speisesaals standen. Jemand bahnte sich keuchend einen Weg durch das dortige Gedränge und schleppte einen großen Koffer, der recht schwer zu sein schien. Der kleine, hagere Mann hatte beide Hände um den Griff geschlossen, wankte durch den breiten Mittelgang und folgte Laurentius. Dabei fiel Benjamin erneut dessen seltsame Gangart auf: Die Beine bewegten sich unter ihm, aber der Rest des Körpers schien zu ruhen.
»Kowalski«, ächzte Louise leise. »Da sind wir wirklich in guten Händen.«
Benjamin gaffte. »Aber hast du nicht gesagt, dass er irgendwo im Sumpf liegt, tot und ohne Hoffnung auf Wiedergeburt?«
Louise zuckte die Schultern. »Vielleicht hatte er Glück, so wie wir.«
»Aber wie ist er in die Stadt zurückgekehrt? Und was ist mit Agostino und den anderen?« Benjamin wollte aufstehen und zu Kowalski gehen, doch Laurentius legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Bleib sitzen, mein Junge«, sagte der Greis. »Es ist alles in Ordnung.«
» O ja«, brummte Louise. »Es könnte gar nicht besser sein.«
Am Tisch der Verteidigung ließ Kowalski den Koffer stehen, wischte sich mit dem Handrücken einen dünnen Schweißfilm von der Stirn und rückte die Brille mit den rechteckigen Gläsern zurecht. »So sieht man sich wieder, mein lieber Benjamin. Und Louise … Es freut mich, dass es euch gut geht.« Er öffnete seinen Koffer und begann damit, ihm komplex wirkende Instrumente zu entnehmen, die hauptsächlich aus Messing bestanden.
»Ja, ich fürchte nur, dass es uns schon bald sehr viel schlechter gehen wird«, entgegnete Louise.
»Optimismus«, sagte Laurentius fröhlich, und Benjamin fragte sich, wie viele Apfelkerne er intus hatte. »Man muss immer optimistisch
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