Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
Benjamins Gedächtnis, und reihten sich zu den Zeilen eines Gedichts aneinander, das er vor langer Zeit gelesen hatte, nicht in der Bibliothek des Instituts, auch nicht in der des anderen Gefängnisses. Die Worte stammten aus dem Leben davor, das noch immer grau und konturlos war, weil er es so wollte.

    Aus Blut Vergangner kommen wir,
Doch sind wir ohne Erben.
In leere Himmel ragen wir
Und können nicht mehr sterben.
Dieses Verströmen in die Zeit
Und dies Hinübergleiten:
Den Leib verlassen wie ein Kleid,
Kann uns nicht mehr geschehen.
Wir, deren Gang vom Weg beschwert,
Den wir als Letzte kamen,
Wir werden einst von Gott zerstört,
Wie Dinge ohne Namen.
    Das Heulen des Winds schwoll kurz an, als wollte es die Worte unterstreichen und ihnen zusätzliche Bedeutung geben. Dann verstummte es, und Stille senkte sich auf den Platz. Mehr Schneeflocken fielen, und das letzte Licht des Tages verblasste schnell. Hier und dort wurden Öllampen entzündet.
    »Du bist nicht Gott«, sagte Benjamin und sah Hannibal dabei in die Augen. »Du kannst uns nicht zerstören.«
    »Wir werden sehen«, erwiderte Hannibal und zog das Seil. Die Bremsklötze sprangen von den Schienen, und die hölzerne Lore – woher kommt ihr Holz?, dachte Benjamin kurz – rollte die Rampe hinunter.

    Louise blieb tapfer und schrie nicht, als der Wagen das Ende der Rampe erreichte und über die Gleise quietschte, die am Rand des Lochs spiralförmig in die Tiefe führten. Sie hockte in einer Ecke der wackelnden, schwankenden Lore, zerrte an
ihren Fesseln und sagte immer wieder: »Ich sehe und höre nichts, la-la-la!«
    »Kannst du mir die Hände losbinden?« Das Rattern wurde lauter, und die schlingernden Bewegungen der Lore nahmen zu, als sich Benjamin neben Louise hockte, mit dem Rücken zu ihr. Es wurde schnell dunkler; über ihnen schrumpfte die Öffnung des Lochs, wie von der Finsternis verschlungen.
    »La-la-la«, sagte Louise noch lauter. »Ich sehe nichts, und ich höre nichts!«
    »Bind mir die Hände los!«, sagte Benjamin und rückte näher an sie heran. »Vielleicht können wir dieses Ding irgendwie abbremsen und nach oben klettern.«
    »La-la-la«, sang Louise wie ein Kind, das die Treppe in einen dunklen Keller hinabging. Aber sie schien Benjamin verstanden zu haben, denn ihre Finger tasteten über den Strick, der um seine Handgelenke geschlungen war. Sie zupften und zogen, und schließlich, nach einer endlos langen Minute, löste sich die Fessel, und Benjamin bekam die Hände frei.
    »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann«, sagte Louise mit zittriger Stimme, als sie den Strick fortzog. »Und wenn er kommt, was tust du dann …«
    Immer schneller jagte die Lore an den Innenwänden des Loches entlang, und aus dem Quietschen wurde ein Heulen wie von tausend gequälten Geistern. Benjamin drehte sich um und machte sich daran, Louise von ihren Fesseln zu befreien. Das von oben kommende Licht reichte gerade noch aus, ihre Augen zu sehen – sie waren groß und voller Angst.
    Benjamin kroch durch den Wagen, und eine besonders heftige Erschütterung warf ihn zur Seite. Für einen Moment
befürchtete er, dass die Lore ganz aus den Gleisen springen und in die Tiefe stürzen könnte, aber die rasende Fahrt auf den Schienen ging weiter, vorbei an einer Wand, die völlig glatt wirkte, wie von einem scharfen Messer geschnitten, und sich immer mehr in der Dunkelheit verlor.
    »Warum bremst du nicht?«, jammerte Louise in ihrer Ecke.
    »Weil ich noch keine Bremse gefunden habe«, erwiderte Benjamin und tastete über den Boden der Lore, ohne einen Hebel oder dergleichen zu entdecken. »Ich fürchte es gibt gar keine.«
    »La-la-la«, sang Louise.
    »Bist du wirklich eine Hure gewesen?«, rief Benjamin.
    »Was?«
    »Bist du wirklich …«
    »Das fragst du mich jetzt ?«
    »Ja. Vielleicht habe ich später keine Gelegenheit mehr dazu.«
    Die Lore schüttelte sich wie ein bockendes Pferd, und als Benjamin den Kopf hob, fuhr ihm starker Fahrtwind ins Haar. Er machte kehrt und kroch zu Louise zurück. Was auch immer geschah, sie waren den Ereignissen hilflos ausgeliefert.
    »Oh«, kam Louises Stimme aus der Dunkelheit. »Oh.« Und dann: »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«
    Benjamin wich zur Seite aus, aber etwas von dem Schwall aus Erbrochenem traf trotzdem seinen zerrissenen Parka, der daraufhin noch etwas strenger roch.
    Über ihnen gab es kaum mehr Licht, nur noch eine vage graue Schliere, die in der Dunkelheit verschwand, noch während Benjamin sie

Weitere Kostenlose Bücher