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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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gab er dem Loch und der Hinrichtung – denn darauf sollte es hinauslaufen – seinen Segen. Weiter hinten, am Rand des Platzes, hatten sich Gemeinschaftsmitglieder, Streuner und Unabhängige eingefunden, viele von ihnen dick vermummt. Nur einige wenige Zuschauer wagten sich bis zur Absperrung vor. Die anderen
hielten sich davon fern, aus Furcht vor Schatten, die jederzeit aus dem finsteren Schlund kommen konnten.
    Auf der linken Seite öffnete Hannibal einen Durchgang in der Barriere, und der Prediger trat mit schwingender Räucherkugel zur Tribüne. Hölzerne Stufen knarrten unter ihm, als er die Treppe hochstieg. Zwei kräftige Hände packten Benjamin an den Oberarmen und dirigierten ihn nach oben, wo der lorenartige Wagen auf den Schienen wartete, die ins Loch führten.
    Als sie auf der Tribüne waren, kam plötzlich Wind auf, und der Prediger musste seinen Trichterhut festhalten, damit er ihm nicht vom Kopf geweht wurde. Schneeflocken tanzten im schwächer werdenden Licht – der Tag neigte sich dem Ende entgegen.
    Der Tag stirbt, dachte Benjamin. Und wir mit ihm. Aber wir sind bereits tot und können nicht sterben, zumindest nicht auf Dauer. Es sei denn …
    Er blickte ins Loch, aus dem die Schatten kamen und das viel tiefer war als der tiefste Abgrund, den sie im Labyrinth gesehen hatten. Unter der Stadt heilten keine Kratzer, erinnerte sich Benjamin. Unter der Stadt, tief unten im dunklen Leib dieser Welt, konnten vielleicht auch Tote für immer sterben.
    »Wo ist der verdammte Mistkerl?« Louise stand neben ihm, die Hände ebenfalls auf dem Rücken gefesselt, und drehte den Kopf. »Oder hat er nicht den Mumm, hier aufzukreuzen und sich das Spektakel anzusehen?«
    »Er steht dort drüben«, sagte Benjamin. »Auf der anderen Seite des Platzes.«
    Dort stand er, Laurentius, den Kragen des grünen Lodenmantels
hochgeklappt, die Hände tief in den Taschen. Benjamin konnte sein Gesicht kaum erkennen, stellte sich aber ein Lächeln darin vor.
    Der Prediger ging zum Wagen auf den Schienen und schwang auch dort die Räucherkugel. Auf Hannibals Zeichen hin öffnete einer der Männer, die Benjamin festgehalten hatten, die hintere Klappe des Wagens.
    »Ich habe immer gewusst, dass Laurentius einen ganz besonderen Sinn für Humor hat«, sagte Louise. »Aber wenn dies ein Scherz sein soll, so kann ich beim besten Willen nicht darüber lachen.«
    Sie leistete keinen Widerstand, als ein Gemeinschaftsmitglied sie zur Lore führte. Der Mann, der die Klappe geöffnet hatte, wollte Benjamin erneut am Arm ergreifen, aber er schüttelte die Hand ab und stieg selbst in den Wagen. Nur die etwa vier oder fünf Meter lange Rampe trennte sie jetzt noch vom Loch. Zwei mit Seilen verbundene Bremsklötze verhinderten, dass die Lore losrollte.
    Während sich Hannibal mit einer kurzen Ansprache an die Zuschauer wandte und auf das vom Richter-Trio mit der Mehrheit von zwei Stimmen gefällte Urteil hinwies – Velazquez hatte sich gegen das Loch ausgesprochen –, sah Benjamin erneut zur anderen Seite des Platzes und stellte fest, dass Laurentius verschwunden war, was ihn aus irgendeinem Grund nicht überraschte. Sein Blick wanderte weiter, zu den Zuschauern, wie auf der Suche nach etwas.
    Und er fand, was er suchte: einen Mann, der einen Dreispitz auf dem Kopf trug, schwarz und mit goldenem Rand, das Gesicht darunter leicht pockennarbig. Dago, mit Jasmin an seiner Seite.

    » Er ist es«, hauchte Benjamin, so leise, dass nicht einmal Louise ihn hörte.
    Dago schien etwa fünfunddreißig zu sein und sah nicht wie ein Professor aus. Aber der Striemen an seinem Hals, wie von einer Garrotte, bot einen deutlichen Hinweis, und Benjamin erinnerte sich daran, als er ihm auf dem Konkordatsplatz in die Augen gesehen hatte, an das Gefühl, diesen Mann zu kennen. Dagos Gürtelhalfter war leer – das weiße Leuchten aus dem Supermarkt hatte auch seine Waffe verschwinden lassen –, aber Benjamin erinnerte sich an den Colt Walker, Modell 1847. Den gleichen Colt hatte Benjamin in einer privaten Waffensammlung gesehen, und Townsend hatte sie »mein bestes Stück« genannt.
    »Dago ist Townsend«, flüsterte er Louise zu. Aber sie hörte ihn nicht, starrte nur entsetzt ins Loch.
    Hannibal beendete seine Ansprache und griff nach dem Seil der Bremsklötze.
    »Habt ihr noch etwas zu sagen, bevor das Urteil vollstreckt wird?«, fragte er.
    Wind pfiff über den Platz, und es klang nach Banshee-Heulen. Wie von diesem Heulen herbeigerufen, stiegen Worte aus

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