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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Rändern, rund wie die Sonne und ebenso falsch wie sie. Die Grenzen zwischen Licht und Schatten schwanden, und leichter Wind berührte Benjamins Gesicht, brachte angenehme Kühle. Vor ihm auf der Tafel schmolzen die Buchstaben zu einem Brei aus Schnörkeln, die sich wie Würmer wanden, bevor sie neue Worte bildeten.
    WIR ALLE FALLEN, UND EIN JEDER LANDET
IRGENDWO.
    Die Worte klangen vertraut. Benjamin hatte das Gefühl, sie irgendwann in einem Roman gelesen zu haben, aber er konnte sich nicht an Titel oder Autor erinnern. Er wusste nur noch, dass es, unter anderem, um verlängertes Leben gegangen war.
    Er sah zur Seite, zum Gebäude mit dem Arkadengang, wo die Mitglieder der Gemeinschaft mit den fünf gefangenen Streunern auf Dago warteten, und als er erneut auf die Tafel vor dem Bildnis des Mannes mit Buch und Schlange blickte, zeigte sie nur noch wenige Buchstaben:
    BENJAMIN, DU MUSST …
    Er starrte auf die Worte, in der Hoffnung, dass sich ihnen andere hinzufügten und Auskunft darüber gaben, was er musste. Er wartete so lange, bis sich ihm schließlich eine Hand auf die Schulter legte.
    »Glaubst du, dass du die Schriftzeichen verstehen kannst, wenn du den Blick lange genug auf sie gerichtet hältst?«, fragte Hannibal. »Ich bin seit fast achtzig Jahren hier und weiß noch immer nicht, was dort geschrieben steht.«
    »Aber …« Benjamin sah auf die Tafel, die wieder nur ein wirres Durcheinander aus Schnörkeln, Strichen und Punkten zeigte, ohne die kleinste Bewegung und ohne erkennbare Bedeutung. Die andere Statue fiel ihm ein, der Reiter auf dem Schlangenwesen in der vergangenen Nacht, der von Edgar Allan Poe stammende Text, den er gelesen hatte, während die Zeichen für Louise völlig unverständlich gewesen waren. Aber sie hatte die von Dante Alighieri stammenden Worte an der Wand des Kellers lesen können. Und dann das Buch im Supermarkt, aus dem Flammen gekommen waren und in dem die Worte »Du musst« eine ganze Seite gefüllt hatten. Was bedeutete das alles? Etwas kratzte in Benjamins Hinterkopf, ein wie eingeklemmter Gedanke, der versuchte sich zwischen alten, unwichtig gewordenen Erinnerungen hervorzuquetschen. Doch er bekam keine Gelegenheit, sich darauf zu konzentrieren.
    Mikado eilte herbei und drehte an den Knöpfen seines Walkie-Talkies. »Ich habe keine Verbindung mehr mit den Beobachtern.«
    »Wie lautet die letzte Meldung?«
    »Dago und seine Leute müssten gleich hier sein.«
    Hannibal wandte sich von der Statue ab und ging langsam
zum Springbrunnen mit den beiden Engeln, die Schlimmstes vom Himmel zu erwarten schienen. Die graue Pistole, die er zuvor in der Hand gehalten hatte, steckte jetzt in einer Halteschlaufe am Gürtel. Sein langer Ledermantel knarrte leise im Wind. Wie die Takelage eines Schiffes, dachte Benjamin und fragte sich, woher dieser Gedanke kam.
    »Sind die anderen Gruppen in Position?«, fragte Hannibal.
    »Ja«, bestätigte Mikado und schüttelte das Walkie-Talkie so, wie er es auch im Wagen getan hatte, als sie mit dem Patrouillenwagen durch die dunkle, verregnete Stadt gefahren waren.
    »Gut.« Hannibal blieb am Brunnen stehen und sah zur anderen Seite des Platzes, wo Gestalten erschienen. »Da sind sie.«
    Benjamin fühlte sich von einer seltsamen Anspannung erfasst, als er beobachtete, wie die Streuner den Platz betraten. Ihre Kleidung, das ließ sich auf den ersten Blick erkennen, war schlechter als die der Gemeinschaftsmitglieder, die Zugriff auf das unerschöpfliche Angebot des Supermarkts hatten: geflickte Hosen und Jacken, zerschlissene Hemden, die Farben verblichen, abgetragene Stiefel. Es waren sieben, alles Männer, und als sie näher kamen, erkannte Benjamin ihre hagere Statur – sie wirkten fast abgezehrt. Er fragte sich, woher sie ihre Nahrung bekamen, wenn ihnen der Supermarkt verwehrt blieb.
    Hannibal machte einige Schritte zur Seite und blieb neben dem Springbrunnen stehen, vielleicht ein demonstrativer Verzicht auf Deckung. Abigale trat neben ihn; ein Dutzend Meter hinter ihnen warteten mehrere Bewaffnete – unter ihnen ein Schusswaffenträger – mit den fünf Gefangenen.

    »Nur sieben, mehr nicht?«, murmelte Mikado und hielt sein Walkie-Talkie wie einen Schild.
    »In den Gebäuden auf der anderen Seite gibt es sicher noch mehr«, sagte Hannibal ruhig. »Vielleicht auch Scharfschützen. Wir wissen nicht, wie viele Gewehre ihnen geblieben sind. Gib den anderen Bescheid. Sie sollen auf alles gefasst sein.«
    Der kleine Mikado nickte und stob davon.

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