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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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positiv, nicht wahr, Benjamin? Du würdest nicht an Türen lauschen, oder?«
    Benjamin erstarrte und antwortete nicht.
    Hannibal legte ihm die Hand auf die Schulter. »Neugier gehört zur menschlichen Natur, darauf hat mich eine gewisse Person oft genug hingewiesen; aber sie kann auch gefährlich sein. Unsere Gemeinschaft besteht aus Menschen, die das Paradies erreichen möchten, Benjamin. Wenn du uns dabei helfen willst, bist du herzlich willkommen. Wenn nicht, musst du uns verlassen. Dir bleiben sechs Tage für die Entscheidung. Hast du dir bereits einen neuen Namen für dein neues Leben überlegt?«
    »Nein.«
    Die Hand wich von seiner Schulter. »Komm, überlassen wir Frederika ihrem Genesungsschlaf.« Draußen im Flur fügte Hannibal hinzu: »Wenn du nach all der Aufregung nicht zu müde bist … Vielleicht möchtest du die Leute kennenlernen, die in der vergangenen Nacht den Supermarkt überfallen haben.«

    »Die Streuner.«
    »Ja. Sie sind in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von uns. Wir planen einen Gefangenenaustausch, und dadurch hast du Gelegenheit, dir ein Bild zu machen. Außerdem … Die Streuner durchstreifen oft die Außenbezirke der Stadt. Wenn die Frau, die du suchst, irgendwo erschienen ist, wissen Dago und seine Leute vielleicht von ihr.«
    Kattrin, dachte Benjamin und folgte Hannibal durch den Flur.

Der Austausch

14
    Es sah aus, als zöge eine kleine Armee in den Krieg, aber es waren eher irreguläre Truppen: Männer und Frauen, jung und alt, ebenso unterschiedlich gekleidet wie bewaffnet. Das gemeinsame Element, gewissermaßen ihre Uniform, war die grimmige Entschlossenheit in ihren Gesichtern. Fast sechzig von dreihundert waren es, die meisten aus dem Hotel Gloria, einige wenige aus dem Hospital. Auf dem Weg zum Konkordatsplatz, wie sie ihn nannten – eine neutrale Zone außerhalb der Einflussgebiete von Streunern und Gemeinschaft –, stießen noch zwei Patrouillen zu dieser Streitmacht, die eine zu Fuß und die andere motorisiert. Am Steuer des Wagens erkannte Benjamin Katzmann und winkte ihm zu. Er blieb in der Nähe von Hannibal, der an der Spitze der Gruppe marschierte, in der rechten Hand eine halbautomatische Pistole. Hannibal ging mit ruhigen Schritten, als hätte er alle Zeit der Welt, durch die Straßen einer Stadt, auf der die Stille wie ein Gewicht lag. Und über der eine falsche Sonne schien. Benjamin sah mehrmals zu ihr hoch und beobachtete die gelbe Scheibe, von der die Wärme kam, die er im Gesicht fühlte. Es lag kein Dunst in der Luft, und der Schleier hoher Wolken fehlte ebenfalls, aber trotzdem war das Licht nicht
grell – Benjamin konnte in die Sonne schauen, ohne dass er blinzeln musste, und wenn er anschließend den Blick senkte, gab es keine blinden Flecken in seiner Wahrnehmung. Ein Plagiat hing dort oben am Firmament, etwas, das sich als Sonne ausgab.
    Etwa zweihundert Meter vor dem Konkordatsplatz, auf einer breiten, von altertümlichen Gebäuden mit üppig verzierten Fassaden gesäumten Straße, blieb Hannibal stehen und hob die linke Hand. Die Männer und Frauen hinter ihm verharrten, und ihre leisen Stimmen verstummten. Katzmann stellte den Motor des Patrouillenwagens ab. Das Flüstern des Winds, der an Hannibals langem Ledermantel zupfte – er sah aus wie ein in die Jahre gekommener Indiana Jones, der seinen Hut vergessen hatte, kam Benjamin in den Sinn –, schien sich in ein leises Stöhnen zu verwandeln. Abigale trat neben ihn und hob einen kleinen Feldstecher vor die Augen.
    »Siehst du sie?«, fragte Hannibal.
    »Nein. Sie sind noch nicht da.«
    »Oder sie stecken in den Gebäuden dort drüben und warten darauf, dass wir zuerst aufkreuzen.« Er drehte sich um und winkte, woraufhin mehrere kleine Gruppen aufbrachen und in Seitenstraßen verschwanden. Zu ihnen gehörten auch einige der wenigen Männer und Frauen, die mit Schusswaffen bewaffnet waren. Die meisten anderen trugen Armbrüste, Bögen, improvisierte Lanzen und Klingen aller Art.
    »Eine kleine Rückversicherung«, sagte Hannibal, als er Benjamins verwunderten Blick bemerkte. »Man kann nie wissen.«
    Mikado näherte sich mit seinem Walkie-Talkie, in dessen
Lautsprecher es leise knisterte. »Die Beobachter sind schon seit einer ganzen Weile in Position. Sie melden keine besonderen Vorkommnisse. Alles ruhig.«
    Hannibal nickte und wandte sich den fünf gefangenen Streunern zu. Ihnen waren die Hände auf den Rücken gebunden, und ein dickes Seil verband ihre Fesseln miteinander, gehalten

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