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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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von zwei besonders kräftigen Männern. »Wenn es allein nach mir gegangen wäre, stündet ihr jetzt am Rand des Loches«, sagte Hannibal mit einer Stimme kalt wie Eis. »Ich verspreche euch: Wenn wir euch noch einmal erwischen, wenn ihr uns noch einmal angreift, wo auch immer … Dann verschwindet ihr im Loch.«
    Es waren vier Männer, und einer von ihnen spuckte Hannibal vor die Füße. Die fünfte Gefangene war eine Frau, gekleidet in eine schmutzige Hose und eine fleckige, fransige Jacke mit mehreren Löchern. Benjamin erkannte sie: die Frau mit der Armbrust. Sie hatte auf ihn gezielt, und er auf sie, mit der Pistole, die der vom Pfeil getroffene Caspar fallen gelassen hatte und plötzlich in seiner Hand erschienen war. Und keiner von ihnen hatte geschossen. Als sich ihre Blicke trafen, nickte sie ihm kurz zu.
    Hannibal sah zum Himmel hoch. »Noch etwa eine halbe Stunde bis zwei Uhr«, sagte er, und Benjamin fragte sich, wie er das allein am Sonnenstand feststellen konnte. Vielleicht brauchte man achtzig Jahre Erfahrung dazu. »Gehen wir.«
    Der Konkordatsplatz war so groß wie zwei Fußballfelder, und in seiner Mitte hatte es einst eine Grünfläche mit Blumenbeeten gegeben, umfasst von weißem Marmor. Jetzt wuchs dort nichts mehr. Nicht einmal ein Grashalm ragte aus dem braunen Flausch, der wie eine wärmende Decke auf
dem grauen Boden ruhte. Im Springbrunnen daneben stand Wasser – wie trübes Glas, glatt und völlig unbewegt. Es sprudelte nicht mehr aus den Schnäbeln der drei Schwäne, auf deren weißen Rücken der Regen dunkle Spuren hinterlassen hatte. Weiter hinten, am Rand des Brunnens, umarmten sich zwei Engel, ihre Flügel halb ausgebreitet, und sahen voller Furcht gen Himmel, als erwarteten sie Schreckliches von dort.
    Auf der anderen Seite der ehemaligen Grünfläche stand eine mehr als drei Meter hohe Statue. Benjamin wandte sich von den anderen ab, ging langsam an der marmornen Einfassung entlang und näherte sich dem ebenfalls aus weißem Marmor bestehenden Bildnis eines Mannes, der ihn an die Darstellung alter griechischer Philosophen erinnerte. Der Mann, der dort stand und seinen Blick über die sieben Hügel der Stadt schweifen ließ, trug einen ionischen Chiton, wie zur Zeit Homers gebräuchlich, und zwar über beiden Schultern, damals das Zeichen freier Männer. In der linken Hand hielt er einen seltsam geriffelten Stab, in der rechten ein aufgeschlagenes Buch. Während Hannibal und die anderen in den Schatten eines Gebäudes zurückwichen, vor dem sich ein Arkadengang entlangzog, blieb Benjamin bei der Statue stehen und sah genauer hin. Nein, es war kein Stab, sondern eine Schlange, der Kopf abgerundet wie der Knauf eines Gehstocks, und das Buch bestand aus winzigen Facetten. In der einen Hand die Schlange, bezwungen, in der anderen ein Buch, das in die Haut einer Schlange gebunden zu sein schien. Religiöse Symbolik?, fragte sich Benjamin. Der physische Sieg über die Schlange als Versinnbildlichung des Bösen, doch im Buch – und damit im Kopf des Menschen – ihr
Wissen. War also sie es, die den eigentlichen Sieg errungen hatte?
    Neugierig geworden ging Benjamin noch einige Schritte und las, was auf der Tafel vor der Statue geschrieben stand:
    EIN WANDRER KAM AUS EINEM ALTEN LAND,
UND SPRACH: »EIN RIESIG TRÜMMERBILD VON STEIN
STEHT IN DER WÜSTE, RUMPFLOS BEIN AN BEIN,
DAS HAUPT DANEBEN, HALB VERDECKT VOM SAND …«
    Die Konturen der Buchstaben zerflossen, wie hinter aufsteigender heißer Luft, wurden zu Schnörkeln, doch nur eine Sekunde später formten sie neue Worte.
    »DER ZÜGE TROTZ BELEHRT UNS: WOHL VERSTAND
DER BILDNER, JENES EITLEN HOHNES SCHEIN
ZU LESEN, DER IN TOTEN STOFF HINEIN
GEPRÄGT DEN STEMPEL SEINER EHRNEN HAND.
UND AUF DEM SOCKEL STEHT DIE SCHRIFT: ›MEIN NAME
IST OZYMANDIAS, ALLER KÖN’GE KÖNIG:
SEHT MEINE WERKE, MÄCHT’GE, UND ERBEBT!‹
NICHTS WEITER BLIEB. EIN BILD VON DÜSTREM GRAME,
DEHNT UM DIE TRÄMMER ENDLOS, KAHL, EINTÖNIG
DIE WÜSTE SICH, DIE DEN KOLOSS BEGRÄBT.«
    Ozymandias, dachte Benjamin. Wieder verschwanden die Buchstaben wie hinter einem Hitzeflirren, und dann erschienen Worte, die nicht zu dem Gedicht gehörten, das Percy Bysshe Shelley anderthalb Jahrhunderte vor seiner Geburt geschrieben hatte.

    GEDENKE HIER, AN DIESEM ORT,
WIE VERGÄNGLICH GLANZ UND PRACHT,
WIE FALSCH MANCH EIN GEWICHT’GES WORT,
WIE TRÜGERISCH DER SICH’RE HORT,
UND DASS FALLEN KANN DIE GRÖSSTE MACHT.
    Eine Wolke schob sich vor die Sonne, mit klaren, glatten

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