Die Stadt - Roman
mehr Zeit in Anspruch.«
»Die Auferstehung«, murmelte Benjamin. Und dann stellte er eine Frage, die alle anderen Fragen in sich vereinte und ihn beschäftigte, seit er am Rand der Stadt erwacht war. »Wie ist das möglich?«
»Die ehrliche Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Nicht einmal Laurentius weiß es, und er ist seit fast zweihundert Jahren in der Stadt. Ich vermute, man kann nur einmal ›richtig ‹ sterben. Der Tod, der uns hierher in die Stadt brachte, war der eine, der ›richtige‹ Tod. Vielleicht existieren neben diesem einen großen Tod noch viele kleine. Und vielleicht sollten wir weniger nach dem Wie fragen und mehr nach dem Warum, mein lieber Benjamin. Was bedeutet es für uns,
dass wir hier, in dieser Stadt, im Limbus, sterben können, ohne tot zu bleiben? Ist es ein Zeichen? Und wenn es ein Zeichen ist, wie sollen wir es verstehen?«
Hannibal sprach nicht wie ein Prediger, aber seine Stimme hatte etwas Eindringliches, dem sich Benjamin kaum entziehen konnte. Der kahlköpfige Mann mit der schiefen Nase war zweifellos ein guter Rhetoriker, und er hatte ein Charisma, das auch in seinen Gesten Ausdruck fand, in einer sehr eloquenten Körpersprache. Wenn man sich davon einfangen ließ, bekamen Hannibals Bewegungen und die Melodie seiner Stimme etwas Hypnotisches, das Zuhörer in den Bann schlug.
»Es gibt hier viele Dinge, die wir nicht erklären können«, fuhr Hannibal fort und sah dabei auf die reglose Frederika herab, deren goldenes Haar wie ein Schleier auf dem Kissen ausgebreitet lag. »Meiner Ansicht nach ist es auch gar nicht nötig, immer nach Erklärungen zu suchen. Nimm nur dieses Hospital, Benjamin. Warum sind die unteren fünf Etagen leer? Warum kann die Rückkehr vom kleinen Tod nur hier stattfinden, in diesem Gebäude, in seinen drei obersten Etagen?«
»Nur hier?«, fragte Benjamin.
Hannibal wandte den Blick nicht von der Leiche ab. »Die Toten müssen hierher ins Hospital gebracht werden, wenn sie möglichst rasch ins Leben zurückkehren sollen. Und Verletzungen heilen hier wesentlich schneller. Oh, draußen finden ebenfalls Wiederauferstehungen statt, aber sie erfordern mehr Zeit, manchmal bis zu zwei Wochen. So lange hat Kowalski einmal tot in einem Keller gelegen, bevor wir ihn fanden und hierherbrachten.«
»Zwei Wochen«, wiederholte Benjamin leise.
»Er fiel damals einem Schatten zum Opfer, wie auch diese Frau.«
»Ich habe sie gesehen«, sagte Benjamin. »Als Louise mich hierherbrachte. Wer oder was sind die Schatten?«
»Wir nehmen an, dass sie aus dem Loch kommen, das du früher oder später sehen wirst. Vielleicht sind es Engel, bereit dazu, uns den Weg zum Paradies zu zeigen – sobald wir fähig sind, sie zu verstehen. Oder es sind Gesandte der Hölle, Dämonen, die uns in die ewige Verdammnis entführen wollen.«
Hannibals Stimme bekam bei diesen Worten einen neuen Klang, und Benjamin fragte sich, ob er sie ernst meinte oder halb im Scherz. Wählte er diesen besonderen Tonfall, um über seine eigene Unsicherheit hinwegzutäuschen und sich nicht festnageln zu lassen? Benjamin versuchte ihn aus dem Augenwinkel zu mustern, ohne den Kopf zu drehen, doch Hannibals Gesicht gab nichts preis.
»Sieh nur, es beginnt«, sagte der Kahlköpfige.
Zwar kam etwas Licht durch die zugezogenen Vorhänge, aber es blieb schwach und verwischte alle Farben zu einem diffusen Grau. Dennoch glaubte Benjamin zu erkennen, dass die Wangen der jungen Frau nicht mehr ganz so bleich waren wie vorher. Fasziniert blickte er auf sie hinab und beobachtete eine vage Bewegung am Hals. Unter dem Laken schien sich kurz die Brust zu heben – pumpte das Herz wieder Blut durch die Adern?
Dann teilten sich die Lippen, und Frederika, von den Toten auferstanden, holte Luft.
»Es ist ein Wunder«, flüsterte Benjamin.
»Dies alles ist ein Wunder«, erwiderte Hannibal mit deutlicher
Zufriedenheit in der Stimme. »Wir sind ins Grab gefallen und wieder herausgekommen, und hier können wir ewig leben, selbst im Tod.«
Es klang nach einem Zitat, und Benjamin fragte sich kurz, von wem es stammte.
»Es ist schneller gegangen als erwartet«, sagte Hannibal. Fürsorglich wie ein Vater rückte er das Laken zurecht und zog es der jetzt wieder atmenden Frau bis unters Kinn. »Ein Schatten-Tod kann recht lange dauern.« Er trat einen Schritt vom Bett zurück und sah Benjamin an. »Vielleicht liegt es daran, dass wir beide gut sind und ihr mit unserer Positivität geholfen haben. Du bist doch gut und
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