Die Stadt - Roman
Benjamin überlegte, was aus seinem Gewehr geworden war, auf das er im Patrouillenwagen so wenig achtgegeben hatte.
Die sieben Streuner blieben ein ganzes Stück hinter dem Springbrunnen stehen. Einer von ihnen hielt eine Schrotflinte in der Armbeuge, und die anderen waren mit einfachen Armbrüsten bewaffnet, bis auf den Mann, den Benjamin sofort als Anführer erkannte. Er schätzte ihn auf Mitte dreißig, und im Gegensatz zu seinen sechs Begleitern trug er keinen Bart und das Haar nicht schulterlang. Ein Dreispitz ruhte auf seinem Kopf, schwarz und mit goldenem Rand, ein Hut, der Benjamin an Napoleon erinnerte und nicht annähernd so alt und abgenutzt war wie die Kleidung. Im Halfter seines Hüftgürtels steckte ein silbrig glänzender Revolver mit weißem Griff.
»Wir haben unsere Gefangenen mitgebracht, Dago!«, rief Hannibal und deutete kurz nach hinten. »Wo sind deine?«
Der Mann mit dem Dreispitz – Dago, Anführer der Streuner, von Louise für noch verrückter gehalten als Kowalski und der Prediger – hob die Hand und winkte. Hinter ihm, am Rand des Platzes, kamen zwei Männer, die ähnlich schlecht gekleidet waren wie die anderen Streuner, aus einem dunklen Hauseingang. Jeder von ihnen führte einen gefesselten
Gefangenen, der eine eine Frau in mittleren Jahren, der andere einen auffallend jungen Mann.
»Der Supermarkt ist verschwunden, habe ich gehört.« Dago löste sich von den sechs anderen Streunern und kam näher, während die übrigen beiden Männer die Gefangenen brachten.
»Inzwischen ist er wieder da.«
»Beim nächsten Mal, Hannibal, bleibt er vielleicht ganz weg.« Dago breitete die Arme aus. »Was wird dann aus deiner schönen Gemeinschaft?«
Fünf oder sechs Meter trennten Benjamin noch vom Anführer der Streuner, und er konnte den Revolver in seinem Gürtelhalfter besser erkennen. Ein Colt Walker, Modell 1847, staunte er, bei Sammlern sehr begehrt, weil nur tausendeinhundert davon hergestellt worden waren. Tausend davon hatten die Dragoner der First United States Mounted Rifles bekommen, hundert waren auf dem zivilen Markt verkauft worden. Die Basis dieser Waffe, erinnerte sich Benjamin mit wachsender Verwunderung, war der Paterson, aber in diesem Fall gab es unter dem Lauf eine Laderamme, und der zweite Unterschied betraf die Trommel: In diesem Fall nahm sie sechs Patronen vom Kaliber 44 auf. Der Colt Walker war der größte und schwerste jemals konstruierte Colt-Revolver: Er wog mehr als zweieinhalb Kilo, und sein Lauf hatte eine Länge von neun Zoll.
Benjamin starrte auf die verchromte Waffe mit dem Griff aus Elfenbein und dachte: Woher weiß ich das alles? Hatte ich im Leben mit Waffen zu tun?
»Was ist mit dem Burschen da?«, fragte Dago. »Hat er was mit den Augen?«
»Starr ihn nicht so an, Benjamin«, flüsterte Abigale, die neben ihm stand. »Das mag er nicht.«
Benjamin senkte den Kopf, in dem Aufruhr herrschte, doch bevor er den Blick zu Boden richtete, fiel ihm noch der rötliche Striemen am Hals des Mannes mit dem Dreispitz auf. Er zog sich von der einen Seite des Halses zur anderen – war Dago gehängt worden?
»Es ist ein Neuer«, sagte Hannibal. »Er kennt dich noch nicht.«
Benjamin hob den Kopf wieder, als er Dagos Blick spürte. Die Andeutung eines pockennarbigen Musters lag auf den Wangen seines schmalen Gesichts, und die dunklen Augen schienen anzuschwellen, als er seinerseits starrte, bis das Weiße fast ganz aus ihnen verschwunden war. Benjamins Blickfeld schrumpfte. Ein Teil des Springbrunnens und der ehemaligen Grünfläche schien sich aufzulösen, als sich seine Aufmerksamkeit auf Dago konzentrierte. Er glaubte, ein kurzes Flackern in den dunklen Augen zu erkennen, und dann fing die rechte Hand seinen Blick ein, als sie sich auf den weißen Griff des Colts legte.
»In welchem Teil der Stadt ist er erschienen?«, fragte Dago leise.
»Warum willst du das wissen?«, erwiderte Hannibal.
Plötzlich lachte Dago, das Weiße kehrte in seine Augen zurück, und er zuckte die Schultern. »Neugier?« Er winkte die Männer mit den beiden Gefangenen zu sich. »Sie haben nur ein paar Schrammen, das ist alles.«
»Fünf gegen zwei«, sagte Hannibal. »Du stehst in meiner Schuld.« Er nickte seinen Leuten zu. »Löst die Fesseln.«
Benjamin bemerkte die Blicke zwischen Dago und der
Frau, auf die er im Supermarkt fast mit der Pistole geschossen hätte. Sie lächelte, rieb sich die Handgelenke, trat an Dagos Seite und flüsterte ihm etwas zu. Er nickte, lächelte
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