Die Stadt - Roman
ebenfalls und hielt plötzlich den Colt in der Hand.
Es ging so schnell, dass Benjamin nicht einmal eine schemenhafte Bewegung sah. Im einen Moment war Dagos rechte Hand leer, im nächsten hielt sie die verchromte Waffe. Ihr Hahn war gespannt, und der Lauf zeigte auf Hannibal, der wie ungerührt auf die Waffe sah und keine Anstalten machte, seine Pistole zu ziehen.
»Dies ist der Konkordatsplatz«, sagte er langsam. »Hier gibt es keine Gewalt. Wir haben einen friedlichen Austausch vereinbart, Dago.«
Benjamin wagte es nicht, den Blick abzuwenden und festzustellen, wie sich die Mitglieder der Gemeinschaft verhielten. Der Wind lebte auf, zupfte etwas energischer an Hannibals langem Ledermantel und zerzauste Abigales rotes Haar. Ein dumpfes Grollen hallte über die Stadt, wie von einem heranziehenden Gewitter.
»Ich brauche nur den Finger zu krümmen, und du hättest ein hässliches Loch im Bauch, Hannibal.« Dago sprach im Plauderton. »Eine Kugel von diesem Kaliber ist groß genug, dir die Eingeweide zu zerreißen. Bei dieser geringen Entfernung würde sie aus dem Rücken austreten und hätte vielleicht noch genug Durchschlagskraft, einen deiner Leute da hinten zu erwischen.«
»Sie würden dich töten.«
»Oh, zweifellos. Und wahrscheinlich müssten noch einige andere dran glauben. Natürlich würden wir alle ins Leben zurückkehren, oder was man hier so Leben nennt, aber es
wäre ziemlich unangenehm, nicht wahr? Und gibt es etwas Negativeres, als sich gegenseitig umzubringen? Dein Weg zum Paradies würde noch länger.«
Wieder eine blitzschnelle Bewegung, und der Revolver steckte im Gürtelhalfter. »Weißt du was? Ich lasse dich am Leben. Weil der Neue da meine Jasmin am Leben gelassen hat, im Supermarkt.«
Der junge Cobain und die ängstliche Magdalena, die noch immer auf der anderen Seite standen, eilten am Springbrunnen vorbei und liefen zur Gemeinschaftsgruppe vor dem Arkadengang.
»Aber beim nächsten Mal, Hannibal … Beim nächsten Mal kommst du nicht so glimpflich davon, und das gilt nicht nur für dich, sondern für euch alle.« Der Plauderton verschwand; Dagos Stimme wurde zu einem Knurren. »Wenn du uns weiterhin den Zugang zum Supermarkt verweigerst, greifen wir irgendwann wieder an. Wir greifen so oft an, bis der Supermarkt ganz verschwindet, für immer. Und dann, mein lieber Hannibal, bekommst du eine Vorstellung davon, wie das Leben in dieser Stadt ohne Regale ist, die sich ständig neu füllen.«
Dago lachte plötzlich und breitete erneut die Arme aus. »Aber warum so viel Unbill? Warum so viel Ärger und Verdruss? Bist du nicht auf der Suche nach Tugendhaftigkeit? Geht es dir nicht um Positivität, auf dass sich der verdammte Nebel lichtet und das Paradies seine goldene Pforte für euch öffnet? Hier bietet sich dir eine ausgezeichnete Gelegenheit, jede Menge Pluspunkte auf deinem himmlischen Konto zu sammeln.« Er beugte sich vor und zischte etwas leiser: »Es wäre eine Chance zu zeigen, dass du es ehrlich meinst und dass euer Gequassel von Gut und Böse ein bisschen mehr ist
als nur leeres Geschwätz. Liebe deinen Nächsten, Hannibal! Sagen dir diese Worte etwas? Oder dir, Abi? Sind wir nicht eure Nächsten?« Dago wich einen Schritt zurück, die Arme noch immer ausgebreitet. »Öffnet den Supermarkt für uns, und alle Feindseligkeiten finden ein Ende. Friede in der Stadt, überall Harmonie und Eintracht – Hosianna!«
Das Grollen wiederholte sich, und diesmal hob Benjamin den Blick. Es zogen dunkle Wolken über den Himmel, falsch wie die Sonne, aber nach einem Gewitter sah es nicht aus.
»Es ist die Stadt«, flüsterte Abigale neben ihm. Ein Sonnenstrahl fiel durch eine Lücke zwischen den Wolken, traf ihren Kopf und schien ihn in Brand zu setzen. Das vom Wind bewegte Haar erinnerte an Flammen. »Sie verändert sich und wächst.«
Das Wasser im Springbrunnen, zuvor glatt wie Glas, kräuselte sich und wurde trüber. Eben hatte Benjamin noch den steinernen Boden des Beckens sehen können; jetzt war dort alles dunkel.
»Nein«, sagte Hannibal.
Dago gab sich verblüfft. »Nein?«, wiederholte er und heuchelte Fassungslosigkeit. »Ein frommer Mann wie du, dem Guten verschrieben, will nichts von Nächstenliebe wissen?«
Abrupt fiel die Manieriertheit von ihm ab. Seine Miene verfinsterte sich, als er einen Schritt vortrat und den Zeigefinger auf Hannibal richtete. Abigale beachtete er überhaupt nicht. »Was bist du doch für ein scheinheiliger Heuchler, Hannibal«, sagte Dago leise.
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