Die Stadt - Roman
»Und du bist dümmer, als ich dachte. Fragst du dich nicht, was mit dir und den Deinen passiert, wenn wir das Arsenal finden?«
»Vielleicht existiert es gar nicht.«
Dago lächelte. »Du bluffst schlecht, Glatzkopf. Wir wissen beide, dass das Arsenal existiert. Irgendwo am Rand der Stadt, und der Rand gehört uns.«
»Euch, dem Nebel und den Kreaturen darin.«
»Irgendwann finden wir das Arsenal, und dann kannst du hier nicht mehr den Obermacker spielen, Glatzkopf. Dann nehmen wir uns den Supermarkt oder lassen ihn für immer verschwinden.«
Inzwischen war das Wasser im Springbrunnen schwarz wie Tinte. Immer wieder kräuselte sich die Oberfläche – etwas bewegte sich dort drin.
»Die nächsten Gefangenen, die wir machen, erwartet das Loch«, erwiderte Hannibal. Er sprach noch immer ruhig. »Sag das deinen Leuten.«
Kattrin, dachte Benjamin. Wir wollten ihn nach Kattrin fragen. Aber er brachte keinen Ton hervor, starrte in den Springbrunnen und beobachtete, wie mehrere Gestalten aus dem Wasser wuchsen, dunkel wie die Seele des Teufels.
Abigale ergriff Benjamins Arm und zog ihn mit sich, als sie zurückwich.
Vom Arkadengang kamen erschrockene Rufe, und die Streuner hinter Dago traten den Rückzug an. Der Mann mit der Schrotflinte hob seine Waffe, richtete sie aber nicht auf Hannibal oder andere Mitglieder der Gemeinschaft, sondern auf die finsteren Gestalten, die aus dem Springbrunnen traten.
»Nicht schießen«, sagte Dago, als hätte er Augen im Hinterkopf – er drehte sich nicht um. »Damit lässt sich ohnehin nichts gegen sie ausrichten. Engel oder Dämonen, Hannibal? « Seine Lippen formten ein dünnes Lächeln. »Himmel oder Hölle? Leben oder Tod?«
Vier Schatten kletterten aus dem Springbrunnen, und sie schienen Substanz zu haben, denn das Wasser bewegte sich dort, wo sie sich bewegten. Es perlte an den Beinen ab, die ölig glänzten, wo sich die Tropfen von ihnen lösten, und die Füße hinterließen feuchte Abdrücke auf dem Boden. Wie vier Taucher in Gummianzügen, die den ganzen Körper bedeckten, auch das Gesicht. Ein leises Knistern begleitete ihre Bewegungen, wie von statischer Elektrizität oder von Stanniolpapier, das jemand zerknüllte – es erinnerte Benjamin an die Flasche im Supermarkt, die sich von allein gefüllt hatte. Nach einigen Schritten blieben sie stehen, zwischen Hannibal und Dago auf der einen Seite und Abigale und Benjamin auf der anderen. Sinnesorgane waren nicht zu erkennen, aber die Schatten schienen sich zu orientieren oder Witterung aufzunehmen. Dann gingen sie weiter: Einer näherte sich Hannibal, und die drei anderen wandten sich Benjamin zu.
»Lauf!« Abigale machte sich mit klackenden roten Schuhen und wehendem feurigen Haar auf und davon.
Benjamin lief nicht; etwas hielt ihn fest.
Vielleicht war es das seltsame Duell der beiden Männer vor ihm, der eine kahlköpfig und in einem langen Ledermantel, der andere mit einer roten Narbe am Hals, einem zweieinhalb Kilo schweren 1847er Colt im Gürtelhalfter und einem Dreispitz auf dem Kopf. Bei diesem Duell ging es nicht darum, wer am schnellsten zog und schoss, sondern wer als Erster den Blickkontakt unterbrach und floh.
Am Himmel gab eine runde graue Wolke die Sonne frei, und plötzlich fiel wieder helles Licht auf den Konkordatsplatz. Es machte die Schatten noch dunkler; sie schienen aus konzentrierter, verdichteter Schwärze zu bestehen.
In der Ferne schlug eine Glocke: ein einzelner, einsamer, wie klagender Ton, der vom Wind getragen über die Stadt hallte. Er gab das Zeichen.
Hannibal und Dago wirbelten herum, als der Schatten sie fast erreicht hatte und die Arme nach ihnen ausstreckte. Sie rannten los, jeder zu seiner Seite des Platzes, Hannibal mit wehendem Mantel und Dago mit einer Hand auf seinem Dreispitz.
Der Austausch war beendet. Die Jagd begann.
15
Es war keine lange Jagd, was – wie Benjamin später erfuhr – vielleicht daran lag, dass der Konkordatsplatz nicht weit vom Stadtzentrum entfernt war, und dort hatten sich in all den Jahren nie Schatten gezeigt. Allerdings war es auch noch nie vorgekommen, dass welche aus dem alten Springbrunnen kletterten. Was auch immer Benjamin festgehalten hatte: Es ließ ihn los, als das Duell zwischen Hannibal und Dago mit einem Unentschieden zu Ende ging, und daraufhin lief er los, wie alle anderen. Während er floh, formte sich ein Bild vor seinem inneren Auge. Er sah einen Buckligen, der die Glocke schlug, die sie alle gehört hatten, eine deforme
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