Die Stadt - Roman
Gestalt in der Art des Glöckners von Notre Dame, und während dieser Bucklige die Glocke läutete, kauerte Kattrin in einer Ecke des Glockenturms und hielt sich die Ohren zu.
Zuerst folgte er dem Gros der Gemeinschaftsmitglieder in Richtung Hotel Gloria, aber schon bald stoben Hannibal,
Abigale, Mikado, Caspar und all die anderen auseinander. Sie liefen durch Seitenstraßen und schmale Gassen, jeder von ihnen in eine andere Richtung. Als Taktik durchaus vernünftig, dachte Benjamin, denn die drei Schatten konnten nicht alle verfolgen. Aber es bedeutete, dass er schon nach kurzer Zeit allein unterwegs war, auf einer schmalen kopfsteingepflasterten Straße, und als er einen Blick über die Schulter warf, sah er alle drei Schatten etwa hundert Meter hinter sich.
Sie waren langsam, stellte er fest, langsamer als die beiden Schatten, die in der vergangenen Nacht beim Theater auf Louise und ihn gewartet hatten. Aber in dem Gewirr von engen Straßen und halbdunklen Gassen verlor er schnell die Orientierung und wusste bald nicht mehr, ob er zum Stadtzentrum unterwegs war oder sich davon entfernte. Vielleicht näherte er sich, ohne es zu wissen, dem rätselhaften Loch, aus dem die Schatten angeblich stammten, und wenn weitere vor ihm auftauchten, saß er in der Falle. Er überlegte, ob er irgendwo Unterschlupf suchen sollte, als er weiter vorn, wo die Gasse nach rechts abknickte, Bewegung an einem Fenster sah. Mehrere Giebelhäuser standen dort so dicht nebeneinander, als lehnten sie Schulter an Schulter, und im zweiten Stock eines dieser Gebäude erschien eine Frau am Fenster: das Gesicht ein helles Oval, umgeben von braunen Locken, der Mund mit den vollen Lippen halb geöffnet, wie zu einem erstaunten »Oh«.
»Kattrin?«, fragte er atemlos.
Ein oder zwei Sekunden stand die Frau – Kattrin; es musste Kattrin sein – am Fenster, wandte sich dann ab und verschwand.
Benjamin lief die letzten Meter zum Haus, blieb kurz davor
stehen und blickte in die Richtung, aus der er gekommen war. Von den Schatten war nichts zu sehen. Er sprang in den dunklen Hauseingang, eilte durch einen Flur, erreichte eine Treppe, hastete die Stufen hoch, blieb auf dem zweiten Treppenabsatz stehen und hielt den Atem an, so schwer ihm das auch fiel.
Völlige Stille umgab ihn, selbst das Flüstern des Winds war verstummt. Nichts regte sich. Nichts knisterte oder knarrte.
Nach dem Lauf durch die Straßen der Stadt gierte Benjamins Lunge nach Sauerstoff. Er öffnete den Mund ganz weit und versuchte, so leise wie möglich zu atmen. »Kattrin?«, flüsterte er schließlich. Er wagte nicht zu rufen, aus Angst, dass die Schatten ihn hörten.
Im zweiten Stock betrat er einen Flur, in dem es mehr Dunkelheit gab als Licht, und öffnete die erste Tür auf der rechten Seite. Wenn er nicht völlig die Orientierung verloren hatte, musste dies das Zimmer sein, an dessen Fenster er Kattrin gesehen hatte.
Nach einer Schrecksekunde, in der er den Raum voller fremder Leute glaubte, erkannte er die ein Dutzend oder mehr Gestalten als Schneiderpuppen, manche von ihnen nackt und staubig. An den anderen hingen die verblichenen Reste von Blusen, Röcken und Kleidern, so alte Stoffe, dass sie zu Staub zerfielen, als Benjamin sie berührte. Und das Fenster, an dem er Kattrin zu erkennen geglaubt hatte … Es war schmal und so schmutzig, dass die Welt dahinter schemenhaft blieb. Benjamin wahrte trotzdem einen sicheren Abstand, für den Fall, dass sich die Schatten dort draußen herumtrieben und noch immer nach ihm suchten.
»Kattrin«, murmelte er, erwartete aber keine Antwort
mehr. Er hatte sie nicht am Fenster gesehen; sein Unterbewusstsein hatte ihm einen Streich gespielt.
Mitten im Zimmer, das einmal die Werkstatt eines Schneiders gewesen sein musste, drehte er sich langsam um die eigene Achse. Wie lange brauchten diese Stoffe, um so brüchig und spröde zu werden, dass sie sich in Staub verwandelten, wenn man sie berührte? Wie viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte?
In der Ecke stand ein Stuhl, und Benjamin nahm vorsichtig darauf Platz. Eine Zeit lang teilte er die Reglosigkeit der Puppen und wünschte sich, ebenso von Gedanken und Gefühlen befreit zu sein wie sie. Fast eine Stunde lang war er mit dem Aufruhr in seinem Innern beschäftigt, und als er im Kopf schließlich alles an den richtigen Platz gerückt hatte, verblasste das Licht des Tages. Er trat erneut zum Fenster, sah nach draußen und merkte sich die Stelle, an der die Sonne unterging. Dann verließ er
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