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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Müsst ihr immer hüpfen und springen, wenn Hannibal mit den Fingern schnippt?«
    Kowalski erschien in der Küchentür. »Wenn wir noch heute zurückwollen, müssen wir sofort aufbrechen«, sagte er ernst. »Der Nebel zieht tiefer in die Stadt, und wenn es so weitergeht, hat er dieses Gebäude in einer Viertelstunde erreicht.«
    Einige Momente später standen sie alle auf der Dachterrasse und sahen aus dem zweiundsechzigsten Stock über die Stadt, die plötzlich geschrumpft wirkte. Es lag nicht nur an der Höhe, sondern auch und vor allem am Nebel, der wie ein graues Meer vom Stadtrand heranbrandete und seine
Wellen durch die Straßenschluchten schickte, vorbei an den sieben Hügeln, die wie gewaltige Felsen der plötzlichen Flut trotzten. Benjamin trat näher zur Brüstung, wagte einen Blick in die Tiefe und beobachtete weit, weit unten, wie selbst drei-und vierstöckige Gebäude im Grau verschwanden. Es war noch einige Straßenzüge vom Hochhaus entfernt, kam aber näher.
    »Hier oben sind wir auf jeden Fall sicher«, sagte Velazquez.
    Katzmann blickte ebenfalls in die Tiefe. »Der Wagen steht unten. Die Gemeinschaft hat nur drei, und wenn sie einen verliert …«
    »An wen denn? Der Nebel vertreibt alle aus dieser Gegend, auch die Streuner.«
    »Ich habe die Karte drin liegen lassen«, sagte Katzmann. »Hat mich sechs Monate gekostet, sie zu zeichnen. Keine andere Karte enthält so viele Details. Auch die Wohnungen der Unabhängigen und unsere Depots jenseits des äußeren Rings sind darin eingezeichnet. Die Streuner könnten auf dumme Gedanken kommen, wenn sie ihnen in die Hände fällt.«
    Velazquez schnippte mit den Fingern. »Wie wär’s, wenn ich mit Benjamin runtergehe? Dieses Gebäude hat bestimmt eine Tiefgarage. Wir stellen den Wagen dort rein und holen die Karte und den übrigen Kram.« Er legte das Walkie-Talkie beiseite, behielt aber die Armbrust. »Unterwegs sehen wir nach dem Burschen, den Louise erstochen hat.«
    »Von mir aus kann er bis zum Jüngsten Tag tot bleiben«, sagte Louise.
    Bis zum Jüngsten Tag, dachte Benjamin, als er sich mit Velazquez auf den Weg machte. Er verließ die Penthouse-Wohnung
nur ungern, was nicht nur an dem langen Weg nach unten und der noch viel beschwerlicheren Rückkehr nach oben lag. Kowalski war auf der Dachterrasse mit seinen Instrumenten und Messungen beschäftigt. Er zählte praktisch nicht, und das bedeutete, dass Katzmann und Louise allein waren. Er stellte sie sich im Schlafzimmer vor, auf dem großen Bett unterm Spiegel, und aus irgendeinem Grund gefiel ihm dieser Gedanke nicht.

    Als sie den Patrouillenwagen in die Tiefgarage gefahren hatten und die Heckklappe des Wagens öffneten, um alles Nützliche mit nach oben zu nehmen, begriff Benjamin, warum sich Velazquez zu dieser Sache bereiterklärt hatte. Die Farben waren in seinem Rucksack nach oben gebracht worden, aber ihm fehlten Leinwand und Staffelei. Benjamin verzichtete auf einen Kommentar, steckte Katzmanns Karte ein – sie war voller Symbole, mit denen er nichts anfangen konnte –, und nahm einen dicken Köcher mit Armbrustpfeilen, jeder per Hand gefertigt. Der Supermarkt bot seinen Kunden weder Armbrüste noch Munition dafür an, und deshalb waren solche Objekte recht wertvoll. Ihre Herstellung erforderte Geschick und kostete Zeit.
    Von der Tiefgarage aus gab es keinen direkten Aufgang ins Hochhaus; sie mussten also nach draußen und zum Eingang auf der Straßenseite.
    Inzwischen hatte der Nebel das Gebäude erreicht und kroch mit trügerischer Trägheit über den Bürgersteig. Die Temperatur fiel – es war schon so kalt geworden, dass Benjamins Atem kondensierte. Weiter die Straße hinunter, in Richtung Norden, wenn ihn sein Orientierungssinn nicht
täuschte, war der Nebel dichter und kletterte wie ein amorphes Geschöpf an den Fassaden der Gebäude empor. Bevor sie durch die große Glastür des Hochhauses ins Foyer traten, glaubte Benjamin, am Ende der Straße eine Bewegung in den grauen Schwaden gesehen zu haben, aber ganz sicher war er nicht.
    Der Aufstieg dauerte länger als beim ersten Mal, obwohl Benjamin diesmal nur einen Köcher und keine empfindlichen Messinstrumente tragen musste. Schon im zehnten Stock protestierten die Muskeln in Waden und Oberschenkeln, und im zwanzigsten schloss sich der Rücken dem Protest an. Er schätzte, dass sie fast eine ganze Stunde für den Aufstieg brauchten, und als sie schließlich schnaufend und keuchend das Penthouse erreichten, platzten sie dort in

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