Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
zweiten Rucksack genommen hatte, der unter anderem seine Farben enthielt.
    Benjamin sah an dem Gebäude hoch. Die obersten fünf Stockwerke – die neuen – schienen etwas heller zu sein als die anderen. »Ich schätze, der Aufzug funktioniert nicht, oder?«
    Katzmann lächelte schief und klopfte sich auf den Oberschenkel. »Beinarbeit, mein Lieber.«
    Sie betraten das Gebäude, durchquerten eine große Eingangshalle, die an das Foyer eines Hotels erinnerte, fanden die Treppe und begannen mit dem Aufstieg.
    Eine gute halbe Stunde später, im zweiundvierzigsten Stock, fanden sie eine Leiche.

    Der Mann lag rücklings auf der Treppe, mit einem Messer im Herzen. Noch im Sterben schien er versucht zu haben, die Klinge aus der Wunde zu ziehen, denn beide Hände waren um den Griff geschlossen. Bart und Haar des Toten waren lang, das schmutzige Gesicht verzerrt. Er trug eine alte, verdreckte Jeans mit mehreren Löchern, darüber eine Jacke, die erstaunlich neu wirkte, ihm aber zu klein war. Bestimmt hatte sie an den Schultern gekniffen.
    Weiter oben lagen mehrere leere Konservendosen, eine davon mit einem Faden dünn wie Nähgarn verbunden.
    »Eine Warnfalle«, sagte Katzmann leise. Er hielt plötzlich seinen Revolver in der Hand und sah nach oben. »Der Dummkopf hat sie übersehen.«
    Kowalski war weiter unten stehen geblieben und starrte so
erschrocken auf das Messer in der Brust des Toten, als würde dies all seine Theorien infrage stellen.
    »Er kann noch nicht allzu lange tot sein«, flüsterte Velazquez und deutete auf eine dunkelrote Lache. »Das Blut ist noch nicht geronnen, und die Heilung beginnt gerade erst. Seht ihr?«
    Das Messer zwischen den Händen des Toten bewegte sich. Benjamin beobachtete, wie es langsam, Millimeter um Millimeter, aus der Wunde kam.
    Katzmann schlich nach oben, verharrte auf dem Treppenabsatz und starrte in den halbdunklen Flur. Nach einem Blick die Treppe hinauf kehrte er zurück. »Wer auch immer ihn erstochen hat, er ist verletzt. Blutspuren führen nach oben.«
    »Dieser Bursche ist ein Streuner«, hauchte Velazquez. »Vielleicht sind noch andere im Gebäude. Wenn er aufwacht und Alarm schlägt …«
    »Wir legen ihn in ein Apartment«, entschied Katzmann. Nach kurzem Zögern steckte er den Revolver ins Halfter. »Fass mit an.«
    Benjamin nahm von Velazquez das Walkie-Talkie und die Armbrust entgegen, obwohl er bereits einige von Kowalskis Instrumenten trug. Als die beiden Männer den Toten anhoben, rutschte das Messer ganz aus der Wunde und fiel mit einem viel zu lauten Klacken auf die Treppe.
    Nach wenigen Metern fanden sie in dem düsteren Flur eine offene Tür und betraten ein Apartment, in dem es noch dunkler war. Benjamin wartete in der Tür, bis sich seine Augen angepasst hatten, und beobachtete dann, wie Katzmann und Velazquez den Toten auf ein leise quietschendes
Bettgestell legten – abgesehen davon enthielt die Wohnung nur noch Reste zertrümmerter Möbel.
    »Wir nehmen ihn später mit und bringen ihn ins Hospital«, sagte Katzmann. »Wer weiß, wie lange es hier dauern würde, bis er wieder lebendig wird.«
    Benjamin starrte auf den Toten.
    »Was auch immer geschieht, Benjamin«, flüsterte Kowalski besorgt. »Lass auf keinen Fall eins der Instrumente fallen. Es hat Monate gedauert, sie zu bauen.«
    Velazquez nahm Funkgerät und Armbrust wieder an sich, und Katzmann zog die Tür des Apartments zu. »Jetzt finden wir heraus, wer sich hier sonst noch herumtreibt«, raunte er.
    Sie schlichen die Treppe hoch und folgten den Blutspuren: kleine rote Tropfen auf jeder dritten oder vierten Stufe. Benjamin hatte sich zuvor erschöpft gefühlt von dem langen Aufstieg, aber inzwischen war die Müdigkeit verflogen. Er verabscheute es, die Arme nicht frei zu haben, und kurz zog er in Erwägung, die in Schaumstoff und dicke Pappe gehüllten Instrumente auf einem Treppenabsatz zurückzulassen. Aber das hätte Kowalski ihm sicher nicht verziehen.
    Im sechsundfünfzigsten Stockwerk, dem vorletzten alten, entdeckte Katzmann eine weitere Warnfalle. Auf halbem Weg zum nächsten Treppenabsatz, an einer besonders dunklen Stelle zwischen zwei Fenstern, auf denen alter Schmutz eine dicke Schicht bildete und das Licht filterte, hob er die Hand und deutete auf einen Faden dicht über einer Stufe. Auch in diesem Fall war er dünn wie Nähgarn und nur zu erkennen, wenn man genau hinsah und wusste, wonach es Ausschau zu halten galt. Von einem kleinen Nagel in der Fußleiste rechts an der Wand

Weitere Kostenlose Bücher