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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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in einem Zug. Er schüttelte sich kurz, setzte die Brille wieder auf und sank auf einen Stuhl.
    »Die Gezeiten sind stärker als jemals zuvor«, sagte er, als erklärte das alles.
    »Welche Gezeiten?«, fragte Benjamin.
    »Die des Nebels. Er kommt und geht, mein lieber Benjamin. Er dringt in die Stadt vor und zieht sich wieder zurück,
in einem Rhythmus von etwa acht Stunden, mehr oder weniger. « Kowalski seufzte schwer. »Ohne Uhren sind genaue chronologische Messungen schwierig.«
    Benjamin griff in die Tasche und holte die Uhr hervor, die er im Tunnel zwischen den Gleisen gefunden hatte. Er schüttelte sie und hielt sie ans Ohr, hörte aber nicht ein einziges Ticken.
    »Hab sie im Labyrinth gefunden«, sagte er. »Die Zeiger fehlen.« Er legte die Uhr auf den Tisch, nahm sein Glas und trank einen Schluck. Die Medizin half; er fühlte sich gut. »Die Medizin ist Medizin«, sagte er und war selbst von der Klugheit in diesen Worten beeindruckt.
    Louise griff nach der Uhr. »Du hast sie im Labyrinth gefunden?«
    »Unser Benjamin hat einen kleinen Ausflug gemacht«, sagte Velazquez. Er stand einige Meter entfernt an seiner Staffelei und schwang den Pinsel. Zwar bearbeitete er die Leinwand erst seit wenigen Minuten, hatte aber schon einige Farbflecken im Gesicht. »Und er hat sich dabei erwischen lassen. Hannibal war ziemlich sauer.«
    Louise betrachtete die Uhr, drehte sie hin und her. »Wie sah es dort unten aus? Erzähl mir davon.«
    »Ihr solltet mir besser zuhören«, sagte Kowalski. »Die ganze Stadt könnte in Gefahr sein.«
    »Die ganze Stadt?«, fragte Katzmann und zwinkerte Louise zu, was Benjamin nicht sonderlich gefiel.
    »Ja. Es hängt davon ab, was sich hinter dem Nebel befindet. Der Moment gedehnter Zeit, in dem wir uns befinden …« Kowalski legte eine dramatische Pause ein. »Er könnte zerreißen.

    »Und das wäre … schlecht für uns?«, fragte Benjamin vorsichtig.
    »Wir könnten aufhören zu existieren. Oder in eine andere Dimension geschleudert werden. Die Ergebnisse meiner letzten Messungen sind eindeutig: Die Gezeiten des Nebels werden stärker. Bei Flut dringt er tiefer in die Stadt vor, inzwischen fast bis zum äußeren Ring, und bei Ebbe weicht er weiter zurück. Außerdem scheint die Zeit zwischen den beiden Extremen zu schrumpfen. Ich befürchte, die Fluktuationen in der Realitätsstruktur der Stadt werden stärker.«
    Angetrieben von einem dringenden Bedürfnis stand Benjamin auf, und als er Louises fragenden Blick bemerkte, sagte er: »Ich muss mal.«
    Er trat in den Flur und merkte, dass der Boden unter ihm schwankte, was vermutlich an den gestörten Gezeiten lag. Im Bad angelangt pinkelte er nicht im Stehen, sondern ließ die Hose runter und setzte sich, stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn auf die Hände. Müdigkeit senkte seine Lider, während er sich erleichterte, und er dachte: Schlaf hier nicht ein, Ben, nicht hier auf dem Klo, nicht während du auf der Brille sitzt.
    Nach ein oder zwei Minuten stand er wieder auf, spülte, fragte sich kurz, wohin der ganze Kram verschwand, und trat, die Hose inzwischen wieder hochgezogen, vor den Spiegel.
    Das bin ich, dachte er und musterte den Fremden, der da aus dem Glas starrte. Benjamin Harthman, an seinem vierzigsten Geburtstag gestorben. Jemand, der seinen Job so verdammt ernst genommen hatte, dass seine Ehe fast dran zerbrochen wäre. Und jetzt erinnerte er sich nicht einmal mehr daran, woraus dieser Job bestand.

    Benjamin hätte dem Mann im Spiegel gern zugeprostet, aber er hatte sein Glas im Wohnzimmer gelassen. Wangen und Stirn waren nicht mehr vom grellen Licht im Supermarkt gerötet. »Du könntest einen Schluck Medizin vertragen«, teilte er dem Fremden mit. »So hohlwangig wie du bist. Siehst übernächtigt aus, mein Lieber. Solltest dich mal wieder rasieren. Und dir die Haare kämmen. Andererseits … Für eine Leiche bist du ganz gut drauf.«
    Er grinste, und der Mann im Spiegel war so nett, das Grinsen zu erwidern.
    Plötzlich fiel ihm etwas ein. Der Nebel. Kowalski hatte gesagt, dass er bei Ebbe weiter zurückwich.
    Er wirbelte herum, verließ das Bad, lief durch Flur und Wohnzimmer, riss die Tür zur Dachterrasse auf und trat in die kalte Nacht.
    »He, was ist los?«, rief Katzmann ihm nach.
    Dunkel lag die Stadt da, um die sieben Hügel geschmiegt. Der Nebel hatte sie schrumpfen lassen, aber ein ganzes Stück vor ihrem Zentrum haltgemacht, wo die Lichter des Hotels Gloria in der Finsternis leuchteten. Das

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