Die Stadt - Roman
Glühen eines besonders großen Flecks am Himmel – der missratene Versuch eines Mondes – fiel aufs grauweiße Meer, aus dem die höheren Gebäude wie Inseln ragten. Der Ozean des Nebels umschloss die Stadt, war viel größer als sie und schien sich nur noch ein bisschen bemühen zu müssen, um sie ganz zu überfluten. Flut, dachte Benjamin. Wenn man etwas sehen kann, dann nur bei Ebbe. Acht Stunden, hatte Kowalski gesagt. Also kurz vor Morgengrauen.
Es war kalt draußen, und er kehrte ins Wohnzimmer zurück. Die anderen sahen ihn fragend an.
»Wie weit ist der Himmel entfernt?«, fragte Benjamin, setzte sich wieder an den Tisch und nahm sein Glas. »Ich meine, wir sind hier im zweiundsechzigsten Stock. Sonne und Mond sich nicht echt. Ich meine …«
»Sonne und Mond sind Effekte quantenmechanischer Tunnelung«, verkündete Kowalski und trank einen Schluck. »Ihr Licht erreicht uns von außerhalb der gedehnten Zeit und … erstarrt hier, gewissermaßen.«
»Wir sind erstarrt?«, fragte Benjamin.
Kowalski, dessen Augen inzwischen ein wenig glasig waren, breitete die Arme aus, blähte die Wangen auf und sagte: »Puff.«
»Puff?«, wiederholte Benjamin.
»Oder vielleicht auch … Bamm! «
»Er meint den Knall von Atomexplosionen«, sagte Louise.
»Wir alle sind im nuklearen Feuer gestorben, als auf der Erde der Dritte Weltkrieg ausbrach«, fuhr Kowalski fort. »Der Zufall wollte es, dass wir – ausgerechnet wir — in eine Zone so enorm hoher Energien gerieten, dass sich zum Zeitpunkt unseres Todes Quanteneffekte bemerkbar machten. Deshalb, mein lieber Benjamin, spreche ich von gedehnter Zeit . Wegen der Relativität.« Er leerte sein Glas, griff nach der Flasche und stellte sie wieder ab, weil sie leer war. »Darum sind nur wenige Menschen in der Stadt. Weil alle anderen in Bereichen niedrigerer Energie gestorben sind.«
»Aber dann …« Benjamin überlegte. »Aber dann hätten wir doch alle gleichzeitig in der Stadt ankommen müssen. Und außerdem, ich erinnere mich nicht an irgendwelche Atomexplosionen. Ich erinnere mich nur an …« Er runzelte die Stirn.
»Es liegt an den Quanten«, dozierte Kowalski. »Und an der Relativität. Eigentlich erstaunlich, dass er schon vor fast hundert Jahren alles ausgearbeitet hat.«
»Er?«
»Ja. Ein Wissenschaftskollege von mir, ein Physiker namens … Wie hieß er doch noch?« Kowalski war plötzlich der Panik nahe. »Lieber Himmel, ich habe seinen Namen vergessen! Irgendwas mit Steinen …«
Müdigkeit lähmte Benjamins Gedanken. Er stand auf und kämpfte dabei gegen ein enormes Gewicht an. »Ich bin völlig erledigt und muss ins Bett.«
Er wankte erneut durch den Flur, und wieder hielt der Boden unter seinen Füßen nicht still. Hinter ihm erklangen Stimmen, aber er achtete nicht darauf, betrat eins der Schlafzimmer, erreichte das Bett und streckte sich dankbar darauf aus. Acht Stunden, dachte er erschöpft. In acht Stunden ist Ebbe.
An der Decke sah er einen Mann, der auf einem großen Bett lag und zu ihm herabstarrte. Er winkte, der Mann winkte ebenfalls, und dann schlossen sie beide die Augen und schliefen.
22
Als Benjamin die Augen aufschlug, sah er Louise neben einem Mann im Bett. Halb zur Seite gedreht lag sie da, mit offenem Mund und nur mit einem dünnen T-Shirt bekleidet. Und der Mann neben ihr, das Haar zerzaust und die hohlen
Wangen voller Bartstoppeln, starrte nach oben, als hätte er einen Geist gesehen.
Erste klare Gedanken krochen an den Kopfschmerzen vorbei, und Benjamin begriff, dass er ein Spiegelbild sah, dass er der Mann war, der dort neben Louise lag. Dann fragte einer der flüsternden Gedanken, wie viel Zeit vergangen war, wie viele von den acht Stunden bis zur Nebel-Ebbe er geschlafen hatte.
Vorsichtig, um Louise nicht zu wecken, schlug er die Decke zurück und stellte dabei fest, dass er nur die Unterhose trug. Wer hatte ihn ausgezogen? Rasch streifte er Socken, Hemd und Hose über, eilte durch den Flur und erreichte das Wohnzimmer. Dort blieb er kurz stehen und blinzelte verwirrt. Tisch und Stühle fehlten, ebenso der große Flachbildfernseher, die Surround-Anlage und die Bar. Der Kamin war blitzsauber, als hätte nie ein Feuer in ihm gebrannt.
Benjamin zog die Terrassentür auf, trat nach draußen und stieß dabei gegen etwas, das scheppernd umfiel. Es war eins von Kowalskis Instrumenten, eine Art Teleskop, das mit mehreren nach vorn gerichteten Antennen und einer Autobatterie aus dem Supermarkt verbunden war. Unten drehte
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