Die Stadt - Roman
sich etwas aus Messing, das nach einem Windmesser aussah. Benjamin versuchte nicht, das Gebilde wieder aufzurichten. Einige rasche Schritte trugen ihn zur Brüstung, und er sah über die Stadt, die ohne den Nebel in alle Richtungen gewachsen war. Am östlichen Horizont zeigte sich das erste Licht des Morgengrauens. Deutlich waren das silberne Band des namenlosen Flusses, der sich wie eine lange Schlange durch die Stadt wand, und die geraden Linien einiger Kanäle zu sehen, die hier und dort künstliches Licht widerspiegelten
– es stammte aus bewohnten Gebäuden und von einigen Straßenlaternen.
Der falsche Mond stand im Westen über dem größten der sieben Hügel, und die kalte Luft war so klar, dass Benjamin auch an den dortigen Hängen, mindestens vierzig Kilometer entfernt, einzelne Lichter erkennen konnte. Wer wohnte dort? Unabhängige? Streuner? Stammte das Licht von elektrischen Lampen? Woher kam der Strom für sie? Von einem Generator wie im Gloria? Und woher kam das Benzin für den Generator?
Er sah nach Norden, wo sich der Nebel so weit zurückgezogen hatte, dass sein Blick über den Rand der Stadt hinausreichte. Eine dunkle Ebene erstreckte sich dort, an einer Stelle glitzerte Wasser – ein See? –, und ein Band zog sich durch die Dunkelheit, weder Fluss noch Kanal. Vielleicht eine Straße, dachte Benjamin. Eine Autobahn. Jenseits davon verhüllte der Nebel alle Einzelheiten: vages, mit der Finsternis der Nacht halb verschmolzenes Grau, das darauf wartete, wieder in die Stadt vorzurücken.
Etwas blinkte dort.
Benjamin trat noch etwas näher an die Brüstung heran, als könnte ihm das dabei helfen, mehr zu erkennen. Er richtete den Blick nicht genau auf die Stelle, wo er das Blinken gesehen hatte, sondern ein Stück daneben, und in der Peripherie seines Blickfelds erschienen Lichter, nicht zwei oder drei, sondern Dutzende, vielleicht sogar Hunderte, halb im Nebel verborgen und so schwach, dass sie miteinander verschmolzen. Eine Stadt, dachte er. Eine Stadt, jenseits der Stadt.
Die Kälte war ihm bereits durch die Socken in die Füße gekrochen, als Benjamin ins Apartment lief. »He, seht euch
das an!«, rief er in den Flur. »Eine Stadt! Es gibt noch eine andere Stadt!«
Türen wurden geöffnet. Müde, verschlafene Gesichter erschienen.
»Der Nebel ist zurückgewichen!«, rief Benjamin. Müdigkeit und Kopfschmerzen waren vergessen. »Man kann die andere Stadt sehen! Sie ist voller Lichter und muss bewohnt sein!«
Kurze Zeit später traten sie alle mehr oder weniger angezogen auf die Dachterrasse, und Kowalski machte sich erschrocken daran, sein umgestürztes Instrument auf Schäden zu untersuchen.
»Ein plötzlicher Windstoß«, sagte Benjamin. »Ich wollte es festhalten, aber da fiel es schon.« Er eilte zur Brüstung und deutete nach Norden. »Halb im Nebel. Lichter. Ganz schwach.«
»Ich sehe nichts«, brummte Katzmann.
Velazquez, das Gesicht noch immer voller Farbe, starrte in die Nacht, zuckte die Schultern und wandte sich ab. »Hast du noch was von der Medizin, Louise?«
»Nein. Wir haben beide Flaschen geleert. He, ist euch aufgefallen, dass das Wohnzimmer halb ausgeräumt ist?«
»Die Stadt passt diese Etage den übrigen an«, brummte Katzmann, wandte sich von der Brüstung ab und verzog das Gesicht. »Mir dröhnt der Kopf. Lasst uns noch ein paar Stunden schlafen, bevor auch die Betten verschwinden.«
Benjamin sah nach Norden. Der Nebel war wieder in Bewegung geraten, kroch über die dunkle Ebene und fraß einen Teil des Bands, das vielleicht eine Autobahn war. Nirgends blinkte oder glühte es in ihm. »Ich habe sie gesehen«,
sagte er. »Sie war wirklich da. Eine andere Stadt. Mit vielen Lichtern.«
»Quantenfluktuationen«, sagte Kowalski. »Verschränkung, Unschärfe und Relativität.« Er legte das Instrument vorsichtig beiseite. »Und jede Menge Alkohol.« Er folgte Katzmann und Velazquez ins Apartment.
»Komm, Ben«, sagte Louise. »Katzmann hat Recht. Lass uns schlafen, solange es hier noch so herrlich große Betten gibt.«
»Ich habe die andere Stadt wirklich gesehen!«
»Vielleicht hast du etwas gesehen«, sagte Louise sanft. »Aber ob es eine andere Stadt war …«
Als sie im Kingsize-Bett lagen, Benjamin wieder nur in Unterhose und Louise mit Slip und T-Shirt, sprach Louise zu seinem Spiegelbild: »Du hast doch gesagt, dass du vor einigen Jahren mit dem Trinken aufgehört hast. Wegen der Gesundheit.«
»Ja.«
»Vielleicht war dies der Grund.«
»Was meinst du
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