Die Stadt - Roman
war sie vor zweihundert und mehr Jahren ebenso beschaffen wie heute. Sie verändert hier und dort Aussehen und Beschaffenheit, Ben, aber sie verändert nicht ihr Wesen .« Louise stand auf, nahm Teller und Topf und ging damit zum Balkon. Dort stand ein Eimer, der Regenwasser enthielt, und darin wusch sie alles ab. Kurze Zeit später kehrte sie zurück. »Außerdem kannst du der Stadt mit gewöhnlicher Logik ohnehin nicht beikommen.«
»Aber …«
»Nur einen Augenblick. Bin gleich wieder da.« Louise verschwand im Nebenzimmer, und Benjamin hörte etwas
klappern. Als sie wieder in der Tür erschien, hielt sie eine große, zur Hälfte gefüllte Plastikflasche in der Hand. »Ich hoffe, man kann ihn noch trinken.«
»Was ist das?«
»Rotwein aus dem Supermarkt. Mehr als ein halbes Jahr alt.«
»Weine werden umso besser, je älter sie sind.«
»Nicht alle.« Louise nahm zwei Plastikbecher aus dem Karton neben dem Bett, füllte sie und gab Benjamin einen. Dann setzte sie sich wieder auf den wackligen Stuhl und prostete ihm zu.
Der Wein schmeckte ein wenig nach Essig, aber er war noch genießbar.
»Wenn es die U-Bahn gibt, seit die Stadt existiert, Louise … Warum habe ich dann nirgends Treppen gesehen, die hinabführen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich.«
»Wie dem auch sei«, sagte Benjamin. »Wir könnten die Stadt verlassen, verstehst du? Über die Route siebzehn. Petrow hat sie vermutlich genommen – er ist verschwunden.«
»Verschwunden?«, wiederholte Louise, aber sie schien in Gedanken woanders zu sein.
»Ja. Bestimmt ist er ins Labyrinth zurückgekehrt. Wir müssen nicht durch den Nebel, um die andere Stadt zu erreichen. Die U-Bahn-Tunnel bringen uns unter ihm hindurch.«
»Ach, Ben«, sagte Louise erneut. »Wie soll das denn gehen? Ohne Ausrüstung? Wie weit wäre der Weg? Luftlinie fünfzig oder sechzig Kilometer? Und in den Tunneln? Hundert oder mehr. Für einen so weiten Weg braucht man Trinkwasser, Proviant, Taschenlampen und andere Dinge. Und
außerdem dürfte Hannibal den Zugang zum Labyrinth inzwischen geschlossen haben.«
»Velazquez hat versprochen, mir was zu bringen«, sagte Benjamin enttäuscht. »Und Caspar!« Er schnippte mit den Fingern.
»Was ist mit ihm?«, fragte Louise. Es klang müde.
»Er hat gesagt, dass er mir sehr dankbar ist. Dafür, dass ich ihn während des Kampfes aus dem Supermarkt gebracht habe. Ich gebe ihm die Möglichkeit, seine Dankbarkeit zu beweisen.«
»Indem er dir ein oder zwei volle Einkaufswagen aus dem Supermarkt bringt? Vergiss es, Ben. So dankbar er auch sein mag – niemand wird seinen Platz in der Gemeinschaft für dich riskieren.« Louise trank von dem Wein, verzog das Gesicht und stellte den Plastikbecher auf den Karton. »Ich bin hundemüde. Komm, wir legen uns hin.«
»Es ist noch hell draußen«, sagte Benjamin und fragte sich, ob Louises Worte eine Einladung waren.
»Es wird auch noch eine Weile hell bleiben.« Louise ging zur Matratze, zog die Hose aus, behielt aber ihr Hemd an und schlüpfte unter eine der Decken. »Nur ein bisschen ausruhen.«
Benjamin legte sich neben sie, in die kratzige Decke gehüllt, unter der er nur die Unterhose trug. In der sich nach einigen Minuten etwas zu regen begann, als Louise näher an ihn heranrückte und ihn die Wärme ihres Körpers erreichte. Eine Zeit lang lag er verwirrt da und fragte sich, ob er Louises Signale richtig deutete, und ob es überhaupt Signale waren. Er hörte ihren Atem, stellte sich vor, wie sie wartete …
Schließlich stützte er sich auf den Ellenbogen und sah sie an.
Sie hob die Brauen. »So wie du mich ansiehst, Ben … Hast du sie schon vergessen?«
»Vergessen? Wen?«
»Deine Kattrin.«
Kattrin, dachte er erschrocken und sank langsam auf die Matratze. Einen ganzen Tag hatte er nicht an sie gedacht. Die Frau, mit der er ein neues Leben hatte beginnen wollen. Und die mit ihm zusammen gestorben war, an seinem vierzigsten Geburtstag. Benommen lag er da und fühlte sich schuldig.
Louise griff unter der Decke nach seiner Hand. »So ist das. Alles verblasst. Die Erinnerungen an das Leben und an sein Ende … Alles wird grau und verschwommen, wie der Nebel. Wer weiß, vielleicht besteht der Nebel aus unserem vergessenen Leben. Denk gelegentlich daran, wie du gestorben bist, Ben. Denk an deinen Tod, damit du das Leben nicht vergisst.«
Sie lagen da und schwiegen, Louise müde und Benjamin in ein Netz aus Gedanken verstrickt. Wie hatte er Kattrin einfach so
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