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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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vergessen können? Als sie mit dem Patrouillenwagen unterwegs gewesen waren, und auch auf dem Weg zu Fuß hierher … Nicht ein einziges Mal hatte er an die Möglichkeit gedacht, dass Kattrin wie er in der Stadt angekommen war. Es fiel ihm sogar schwer, sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen. Eine seltsame Angst befiel ihn, die Furcht davor, ein Stück von sich zu verlieren.
    Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigte, und schließlich fragte er leise: »Warum hast du dich umgebracht, Louise?«
    Sie gab keine Antwort, und als Benjamin zur Seite sah, stellte er fest, dass sie die Augen geschlossen hatte und schlief.
Irgendwann musste auch Benjamin eingeschlafen sein, und als er erwachte, hielt er Louise im Arm, warm und weich. Er strich ihr übers Haar und flüsterte: »Es wird alles gut.«
    Aber vielleicht hatte er nur geträumt.

    Als er das zweite Mal erwachte, war es dunkel im Zimmer; es roch so stark nach Staub und Moder, dass er die Nase rümpfte. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, und durch das Fenster der Balkontür kam das fahle Licht des falschen Monds, gerade genug, dass er den schmutzigen Fußboden erkennen konnte. Wenigstens brauchen wir uns keine Gedanken über Ungeziefer zu machen, dachte Benjamin im Halbschlaf. Es gibt hier keins. Die Stadt lebt, und doch ist sie tot, ohne Insekten und ohne Pflanzen.
    Dann fiel ihm die Spinne in dem Keller ein, in dem er sich mit Louise vor den Schatten versteckt hatte. Die Spinne, die plötzlich verschwunden war.
    Ebenso wie Louise. Sie lag nicht mehr neben ihm.
    Benjamin setzte sich abrupt auf. »Louise?«
    Die Balkontür stand einen Spaltbreit offen, und Benjamins zum Trocknen aufgehängte Sachen flatterten wie kleine Fahnen im Wind. Andere Geräusche gab es nicht. Niemand antwortete ihm.
    Er stand auf und zog sich die kratzige Decke wieder um die Schultern, denn es war kalt geworden. Sein Rucksack lehnte an dem wackligen Stuhl, auf dem Louise gesessen hatte, und auf dem Karton-Tisch lagen ein Zettel und ein zusammengefalteter Bogen Papier in einer Klarsichthülle. »Lieber Ben« stand ganz oben auf dem Zettel, und Benjamin nahm ihn und las.

    Lieber Ben,
    ich weiß, es ist dumm, einfach so zu verschwinden, aber ich kann Dich nicht mitnehmen. Es ist zu Deinem eigenen Besten, glaub mir. Ich lasse Dir eine Karte da, in der meine anderen kleinen Schlupfwinkel und einige Orientierungspunkte der Stadt eingezeichnet sind, damit Du dich zurechtfindest. Wenn alles gutgeht, treffen wir uns in zwei Tagen abends in meiner kleinen Absteige beim Kongresszentrum, einverstanden? Und da Du Dich jetzt sicher fragst, was gutgehen muss, damit wir uns treffen können: Ich habe vor, der Bibliothek einen Besuch abzustatten. Wenn ich sie erreichen und etwas aus ihr bergen kann, erkaufe ich mir damit Zugang zum Supermarkt. Es ist die einzige Möglichkeit. Ich kann nicht darauf warten, dass erneut jemand wie Du in der Stadt erscheint, und die Suche nach dem angeblichen Arsenal würde zu lange dauern und hätte vielleicht ohnehin keinen Sinn. Zwei Tage, Ben. So lange sollten Deine Vorräte reichen.
    Bis bald!
    Louise
    Die Bibliothek, dachte Benjamin. Louise hatte während der ersten Fahrt im Patrouillenwagen davon erzählt, als sie mit Katzmann und Mikado auf dem Weg zur Gemeinschaft gewesen waren. Ein gefährlicher Ort, den sie schon mehrmals vergeblich zu erreichen versucht hatte. Mit einer Waffe wäre es einfacher, zur Bibliothek zu gelangen , hatte sie gesagt.
    Benjamin zog die Karte aus der Plastikhülle und faltete sie auseinander. Es war eine sehr einfache, aufs Wesentliche beschränkte Darstellung der Stadt, und die Bibliothek war nicht eingezeichnet.
    Er legte Zettel und Karte auf den Tisch, und als hätte er
damit das Zeichen gegeben, verklang draußen die leise Stimme des Windes. Die Kleidungsstücke hingen reglos an der Leine auf dem Balkon, verursachten kein Geräusch.
    Stille breitete sich aus. Aber es war eine Stille, die den Atem anhielt und wartete.
    Benjamin horchte.
    Etwas näherte sich, sagte ihm sein Instinkt, und es war kein Mensch.

Schattenwege

28
    Benjamin ließ die kratzige Decke zu Boden gleiten, huschte zur Balkontür und zog sie auf. Er hatte einen Kloß im Hals, und seine Hände zitterten, als er die Kleidungsstücke von der Leine nahm, sie überstreifte und einen Blick nach unten warf. Leer lag die Straße da, das Kopfsteinpflaster inzwischen trocken, rechts und links gesäumt von Pfützen. Nirgends regte sich etwas.
    Er zog die Schuhe an, die noch

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