Die Stadt - Roman
feucht waren, ebenso wie der Parka mit dem Schussloch im Ärmel, kehrte in die Wohnung zurück und lauschte. Nicht das geringste Geräusch erklang, es kam nicht einmal ein leises Knistern vom Kamin. Und doch … Er fühlte etwas in dieser Stille, etwas, das auf ihn wartete.
Benjamin schwang sich den Rucksack auf den Rücken, steckte Louises Karte und den Brief ein und schlich zur Tür. Vorsichtig öffnete er sie einen Spaltbreit und spähte in den Flur, in dem es so dunkel war, dass er nicht einmal die Treppe sehen konnte.
Er machte einen vorsichtigen Schritt in den Flur; von seinen feuchten Schuhen kam ein leises Quietschen, das die Stille zu packen und zu zerreißen schien. Nach einigen Metern durch die Finsternis, bei der Treppe, verharrte Benjamin
erneut, direkt neben einem an der Wand befestigten Gummiband – es hatte den Besenstiel gehalten, der ihm gegen den Kopf geknallt war. Wo lag das Ding? Er gab seinen Augen noch etwas mehr Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und dann sah er den Besenstiel im Flur auf der anderen Seite der Treppe, an die Wand gelehnt.
Auf Zehenspitzen, um so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen, machte er einige Schritte und ergriff den Besenstiel. Mit ihm in der Hand fühlte er sich ein wenig besser, aber nicht viel. Er wollte sich umdrehen und zur Treppe zurückkehren, als es direkt vor ihm fast unhörbar leise knisterte und sich ein Schatten von der Wand löste, an der sich eine dünne Eisschicht gebildet hatte, genau dort, wo eben noch der Besenstiel gelehnt hatte.
Ein jäher Adrenalinschub ließ Benjamin zurückspringen, und gleichzeitig schwang er den Besen. Der Stiel aus hartem Holz sauste herum, erreichte den Schatten und durchdrang ihn, ohne auf spürbaren Widerstand zu stoßen.
Benjamin ließ ihn fallen und rannte mit quietschenden Schuhen los.
Auf der Treppe nahm er mehrere Stufen auf einmal, obwohl er sie in der Dunkelheit kaum sehen konnte, und in den engen Kurven auf den Treppenabsätzen schien der Rucksack doppelt so schwer zu werden – er schwang herum und raubte Benjamin fast das Gleichgewicht. Er erreichte den ersten Stock, und die Stille floh vor ihm, vor dem Donnern seiner Schritte und dem Keuchen, als er weiter nach unten stürmte, ohne sich die Zeit für einen Blick über die Schulter zu nehmen.
Als er das Erdgeschoss erreichte, erschien ein zweiter Schatten vor ihm: die Silhouette einer menschlichen Gestalt, mit
Kopf, Armen, Rumpf und Beinen, so dunkel wie das Innere eines Grabs, Finsternis ohne Substanz. Ein leise knisterndes, kaltes Etwas ohne Augen, Ohren oder andere erkennbare Sinnesorgane, das aber dennoch den Eindruck vermittelte, Benjamin deutlich zu sehen und alles zu hören, selbst seinen rasenden Herzschlag.
Die schwarze Gestalt trat auf ihn zu, mit dem Knistern von Eis unter ihren Schritten. Ein Arm streckte sich Benjamin entgegen …
Er zuckte zurück, drehte sich um und sah in der Düsternis, wie der erste Schatten die Treppe herunterkam. Benjamin konnte nicht zurück, und der Weg nach draußen war ebenfalls versperrt.
Er holte tief Luft und sprang an dem zweiten Schatten vorbei in Richtung Haustür.
Der ausgestreckte Arm berührte ihn am Halsansatz, und eine Art elektrischer Schlag zuckte durch Benjamins Körper. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Die hohen Baumwipfel rauschten wie ein Meer, und Benjamin sagte: »Einst war ganz Europa ein riesiger Wald, ein grünes Meer. Aber dann kamen die Römer und fällten die Bäume, bauten Palisaden und Schiffe.«
Er sah nach oben und beobachtete, wie sich Äste und Zweige bewegten, angestoßen von den unsichtbaren Händen des Winds. »Hörst du sie? Hörst du die Stimme des Winds?«
»Ja«, erwiderte Kattrin an seiner Seite. »Sie erzählt von anderen Zeiten, vom Anfang und Ende der Welt.«
Benjamin sagte etwas, und Kattrin lachte. Ihre Stimme klang anders, ein wenig schrill.
»Warum lachst du?«, fragte er.
»Ich lache, weil ich glücklich bin.«
»Und warum bist du glücklich?«
»Weil wir hier sind. Weil wir beschlossen haben, ein neues Leben zu beginnen.«
»Ist es unser Leben?«
»Wem sollte es sonst gehören?«
»Das ist die Frage.« Er sah sie an, auf der Suche nach den richtigen Worten, und vielleicht nach Antworten auf Fragen, die er erst noch stellen musste. »Wie lange möchtest du leben, Kattrin?«
Sie machte große Augen und lächelte. »Wie lange? Ich weiß nicht. Für immer?«
»Für immer«, murmelte er. »Das ist lange.«
Es war dunkel und kalt, und
Weitere Kostenlose Bücher