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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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über die zweite Büchse her.
    »Ananas«, sagte er genießerisch und fischte mit Zeige-und Mittelfinger eine weitere Scheibe heraus. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal Ananas gegessen habe.«
    Der Schmerz ließ weiter nach, und Benjamin spürte, wie ein wenig Kraft zurückkehrte. Es war nicht genug, bei weitem nicht. »Ich habe Hunger«, krächzte er. »Und Durst.«
    »Hast du nicht genug Regenwasser geschluckt?« Der Streuner mit dem struppigen Haar lachte, nahm die leere Dose, schöpfte damit Wasser aus einem Eimer und brachte sie Benjamin. Einen Schritt vor ihm blieb er stehen, hob warnend den Zeigefinger, und stellte die Büchse auf den Boden. »Keine
Mätzchen, mein Lieber, sonst knallt’s. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.« Er klopfte kurz auf die Pistole hinter seinem Gürtel, wich dann zurück. »In Ordnung, jetzt kannst du die Dose nehmen.«
    Benjamin wollte die Hand ausstrecken und stellte fest, dass er gefesselt war. Der Streuner hatte ihm eine Schnur um die Handgelenke geschlungen und verknotet.
    Der Mann lachte erneut und nahm wieder am Feuer Platz. »Nur zu, trink.«
    Benjamin griff mit beiden Händen nach der Büchse und trank Wasser, das nach Bohnen schmeckte. Kaum hatte er die Dose leergetrunken, bekam er Magenkrämpfe und übergab sich.
    »Glaub nur nicht, dass ich erneut den Kellner für dich spiele«, sagte der Streuner und mampfte Ananas. »Was ist mit dir passiert, hm?«
    »Ein Schatten …«, ächzte Benjamin. Seine Kehle schien in Flammen zu stehen.
    »Oh, ein Schatten hat dich erwischt? Bist du tot gewesen? So wie du aussiehst …«
    Zwei Tage, dachte Benjamin und erinnerte sich an den Brief, den Louise ihm geschrieben hatte. In zwei Tagen erwartete sie ihn in ihrem Quartier beim Kongresszentrum. Wie viel Zeit war vergangen?
    »Wie lange habe ich … auf der Straße gelegen?«
    »Was weiß ich?«, erwiderte der Streuner mit vollem Mund. »Hab nicht bei dir gesessen und die Stunden gezählt.«
    »Das sind … meine Sachen, die du da isst.«
    »Was du nicht sagst.« Der Mann holte die letzte Ananasscheibe aus der Büchse, schlang sie hinunter, trank den Saft
und nahm die nächste Konserve. »Rindfleisch. Meine Güte, hast lauter Delikatessen mit dir herumgeschleppt.«
    »Es ist alles, was ich … habe.« Das Brennen in der Kehle ließ allmählich nach, wie zuvor der Schmerz, aber die Schwäche blieb. Beine und Arme fühlten sich an, als bestünden die Knochen aus Blei.
    Die Flammen des kleinen Feuers züngelten, der Streuner schmatzte genießerisch, und draußen im Nebel fauchte eine Kreatur.
    Der Mann am Feuer neigte kurz den Kopf zur Seite. »Hörst du die Viecher? Sind ebenfalls hungrig. Fast hätten sie dich gekriegt.« Er lachte und sagte: »Aber vielleicht müssen sie nicht lange auf dich verzichten. Dago könnte beschließen, dich als Köder in einer unserer Fallen für die Kreaturen zu verwenden, solange du noch was auf den Rippen hast. Natürlich nur, wenn sich Hannibal nicht auf einen Handel einlässt. Aber er will dich bestimmt zurückhaben, oder? Schließlich stehen die Mitglieder der Gemeinschaft füreinander ein.«
    Benjamin schwieg. Er hielt es für besser, nicht darauf hinzuweisen, dass Hannibal ihn hinausgeworfen hatte.
    Der Schmerz kehrte zurück, breitete sich wie eine langsame Explosion im Bauch aus, strahlte in Arme und Beine, kroch bis in Finger und Zehen und schnitt wie mit einem Messer durch Benjamins Kopf. Eine Zeit lang nahm er nichts anderes wahr, nur diesen Schmerz, der ihn an Velazquez im Hospital erinnerte, und er fragte sich, ob er wirklich tot gewesen war, umgebracht von einem Schatten, der ihn entführt und … irgendetwas mit ihm angestellt hatte. Aber wenn das stimmte, wenn er wirklich als Leiche im Rinnstein gelegen
hatte … Die Auferstehung außerhalb des Hospitals dauerte länger. Es konnten mehrere Tage vergangen sein, eine ganze Woche, vielleicht sogar zwei oder drei. Nein, das war unwahrscheinlich. So viel Zeit wäre bestimmt nicht verstrichen, ohne dass ihn die Kreaturen gefunden hätten.
    Irgendwann ließ der Schmerz erneut nach, und als Benjamin die Augen öffnete, war es draußen nicht mehr dunkel. Das erste Licht des neuen Tages fiel durchs offene Fenster und schien mit dem Rauch zu wetteifern, der wie eine verirrte Nebelschwade davor in der Luft hing und sich kaum bewegte. Vorsichtig drehte Benjamin den Kopf.
    Der Streuner, dessen Namen er noch immer nicht kannte, lag neben dem Gerümpel an der Wand, auf einem Lager aus

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