Die Stadt - Roman
man mir mitgegeben hat.«
»He, he, ganz ruhig, Junge.« Der Streuner stand da und hob die Arme. »Hast du vergessen, dass ich dich vor der Kreatur gerettet habe? Ohne mich hätte dich das Biest zerfleischt und verschlungen. Es hätte dich irgendwann ausgeschissen, und Scheiße wird nicht lebendig, das steht fest.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Benjamin.
»Was soll das denn heißen, Mann? Nur weil ich mir einen kleinen Happen von deinen Vorräten genehmigt habe? Ist dir dein Leben nicht mal so viel wert? Komm schon, Mann, nimm die Waffe weg. Das Sterben ist verdammt unangenehm; ich möchte es nicht noch einmal durchmachen müssen. Was hältst du davon, wenn wir Freunde werden? Ich bringe dich zu Dago und lege bei ihm ein gutes Wort für dich ein. Bei uns bist du gut aufgehoben.«
»Als was?«, fragte Benjamin. »Als Köder für eine Kreaturenfalle?«
Der Streuner lachte und trat einen Schritt vor. »He, das war nur ein kleiner Scherz. Du glaubst doch nicht etwa …«
»Noch ein Schritt, und du hast eine Kugel in deiner dämlichen Birne!«
Der Mann blieb stehen und musterte Benjamin einige Sekunden lang. Dann lächelte er wieder. »Ach, komm, du würdest doch nicht wirklich auf mich schießen. Ich meine es doch nur gut mit dir.« Und dann sprang er.
Benjamin hielt die Pistole in beiden Händen und krümmte den Zeigefinger der Rechten. Es knallte, der Kopf des Streuners ruckte nach hinten, der Oberkörper folgte ihm, und der Mann fiel mit dem Rücken auf den Boden, in der Stirn ein hässliches Loch.
Benjamin sah auf den Toten hinab, und seine Mischung aus Erleichterung und Genugtuung löste sich fast sofort wieder auf, als ihm erschrocken klarwurde, dass er gerade einen Menschen erschossen hatte.
Er starrte auf die Pistole in seinen Händen und ließ sie fallen, als wäre sie plötzlich glühend heiß. Nur eine Sekunde später fühlte er sich wie ein Idiot, hob die Waffe wieder auf und steckte sie ein. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals auf jemanden geschossen zu haben; aber das Gefühl der Vertrautheit, das ihm die Pistole vermittelt hatte, irritierte ihn. Benjamin beschloss, später darüber nachzudenken. Rasch durchsuchte er die Taschen des Streuners, fand ein Messer und befreite sich damit von der Schnur an seinen Händen. Außerdem entdeckte er zwei Reservemagazine, die er ebenso einsteckte wie das Messer, nahm seinen Rucksack und eilte zur Tür. Dort hielt er inne, wie nach einer großen Anstrengung außer Atem, und zwang sich zur Ruhe. Sein Blick kehrte noch einmal zu dem Toten zurück.
Ich habe jemandem eine Kugel in den Kopf gejagt, und es ist mir nicht schwergefallen, dachte er voller Unbehagen. Dann eilte er hinaus.
Als er auf die Straße trat, in den kalten Morgen, fielen erste Schneeflocken, und eine dünne Eisschicht glitzerte auf den Pfützen.
30
Ich hätte ihm ins Bein schießen können, dachte Benjamin als er über den Bürgersteig ging, dicht an den Hauswänden entlang – er wollte keine Spuren im Schnee hinterlassen. Oder in den Arm, um ihn zu warnen. Aber ich habe auf den Kopf gezielt und auch getroffen. Es ist mir leicht gefallen, auf ihn zu schießen. Es war eine Erkenntnis, die ihn mit Unbehagen erfüllte, und Benjamin grübelte eine Zeit lang darüber nach, während er den Blick gesenkt hielt und beobachtete, wie sich seine Füße bewegten.
Die Schneeflocken, klein und kalt, fielen dichter, und der Wind, der zuvor eisige Luft ins Zimmer geweht hatte, legte sich. Die Stadt streifte ein weißes Gewand über, und ihre Stille wurde wie in Watte gehüllt. Benjamin erinnerte sich daran, dass Kowalski von »selektiver Strahlungsreduktion« gesprochen hatte, und davon, dass es »in diesem Teil der Stadt« Winter werden konnte. Befand er sich also in dem Stadtviertel mit dem Wolkenkratzer, in dem vier neue Stockwerke entstanden waren?
An der nächsten Straßenecke blieb Benjamin stehen, so dicht an der Hauswand, dass ihn nur wenige der fallenden Schneeflocken erreichten, griff in die Tasche des schmutzigen, nach Erbrochenem riechenden Parkas und holte die von Louise gezeichnete Karte hervor. Sie steckte nicht mehr in der Klarsichthülle, und Regennässe hatte die gezeichneten Linien und Hinweise verwischt. Benjamin fluchte, zerknüllte die nutzlos gewordene Karte und warf sie in den ruhig und senkrecht fallenden Schnee, der inzwischen so dicht geworden war, dass die Sichtweite auf sechzig oder siebzig Meter
schrumpfte. Unter solchen Umständen war es sinnlos, eins
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