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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Lumpen, mit einer gepolsterten Armlehne des Sessels als Kopfkissen; er schnarchte leise. Vom Feuer war nur noch glühende Asche übrig. Ein dünner Rauchfaden stieg davon auf und vereinte sich mit der Wolke am Fenster.
    Die Bohnendose stand in der Nähe, wieder mit Wasser gefüllt. Benjamin nahm sie vorsichtig mit den gefesselten Händen, und diesmal trank er langsam, in kleinen Schlucken, obwohl es ihn danach verlangte, die Büchse in einem Zug zu leeren. Wieder entstand Übelkeit in ihm, aber sie hielt sich in Grenzen. Er beobachtete den Streuner und gelangte nach ein oder zwei Minuten zu dem Schluss, dass er wirklich schlief.
    Dies war eine Chance, vielleicht seine einzige.
    Er stellte die Büchse beiseite, zog die Beine an – langsam, nur kein Geräusch verursachen – und stand auf. Für einen Moment schwankte er und rang um sein Gleichgewicht, machte dann einen Schritt nach vorn … und spürte, wie seine Hände zur Seite gezogen wurden. Eine zweite Schnur war
zwischen seinen Händen um die erste geschlungen und führte zu einem Haken in der Wand, an dem vielleicht einmal ein Heizungskörper befestigt gewesen war. Benjamin zog daran, doch das Ding löste sich nicht. Er schlich zur Wand, betastete den Knoten mit zitternden Fingern und musste sich nach einigen vergeblichen Versuchen eingestehen, dass er ihn nicht lösen konnte.
    Auf der anderen Seite des Zimmers schnaufte der Streuner im Schlaf und drehte sich zur Seite. Deutlich war die Pistole hinter seinem Gürtel zu sehen.
    Benjamin kehrte auf leisen Sohlen dorthin zurück, wo er auf dem Boden gelegen hatte, nahm die Büchse, betastete ihren Rand und fand, was er suchte: eine scharfe Stelle. Rasch drehte er die Dose und begann damit, an der zweiten Schnur zu sägen. Schon nach einer Minute war sie durchtrennt.
    Benjamins Knie zitterten, und für einen Moment befürchtete er, sie könnten unter ihm nachgeben. Er biss die Zähne zusammen, drehte die Büchse und versuchte sich auch von der Fessel an seinen Händen zu befreien, doch das erwies sich als weitaus schwieriger. Mehrmals wäre ihm die Dose fast aus den Händen geglitten und zu Boden gefallen – das Scheppern hätte den Streuner sicher aus seinen Träumen gerissen.
    Ein leises Knarren kam vom Fenster, als draußen Wind aufkam. Kalte Luft wehte herein und zerfaserte die Rauchwolke, die bis eben fast völlig bewegungslos gewesen war.
    Benjamin bückte sich und stellte die Dose auf den Boden. Er brauchte mehr Zeit, um die Schnur an seinen Handgelenken zu durchtrennen, und die hatte er nicht. Der kalte Wind erreichte den Streuner und weckte ihn vielleicht.

    Auf Zehenspitzen schlich er durchs Zimmer, vorbei an den Resten des Feuers, näherte sich dem Schlafenden, ging in die Hocke und streckte die gefesselten Hände nach der Pistole hinterm Gürtel aus.
    Der Streuner schnaufte erneut – vielleicht spürte er bereits den vom Fenster kommenden kalten Wind – und machte Anstalten, sich ganz auf die Seite zu drehen. Das hätte bedeutet, dass die Pistole unter ihm unerreichbar gewesen wäre, und deshalb handelte Benjamin. Er brachte beide Hände heran, schloss die rechte um den Griff und riss die Pistole hinter dem Gürtel hervor. Der Streuner öffnete die Augen und kam halb in die Höhe, aber Benjamin war bereits einen raschen Schritt zurückgewichen und trat noch etwas weiter fort, die Waffe auf den Mann gerichtet.
    »Bleib liegen«, sagte er.
    »Kannst du überhaupt mit dem Ding umgehen?«, fragte der Streuner, und seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.
    »Ich glaube, ich habe das richtige Ende auf dich gerichtet, du Komiker«, erwiderte Benjamin. »Bleib hübsch ruhig, wenn dir was an deinem Leben liegt.«
    Der Mann grinste jetzt und setzte sich wie in Zeitlupe auf. »Es ist gar nicht so einfach, auf jemanden zu schießen. Du willst doch niemanden umbringen, oder? Die Gemeinschaft ist doch um ›Positivität‹ bemüht, wie es Hannibal nennt.«
    Benjamin wich noch einen Schritt zurück. Er hatte die Pistole entsichert, ohne groß darüber nachzudenken, und merkte jetzt, wie vertraut sie sich in seiner Hand anfühlte. Dieses Empfinden lenkte ihn kurz ab, was der Streuner vielleicht für ein Zeichen von Unsicherheit hielt.

    Der Mann stand auf. »Es würde Hannibal bestimmt nicht gefallen, wenn du jemanden erschießt.«
    »Hannibal hat mich rausgeschmissen.« Benjamin zielte auf den Kopf des Streuners. »Und du Mistkerl hast dir den Bauch mit dem bisschen Proviant vollgeschlagen, den

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