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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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der oberen Stockwerke aufzusuchen, aus den Fenstern zu sehen und nach Orientierungspunkten Ausschau zu halten. Wie sollte er den Treffpunkt finden, an dem Louise ihn erwartete? Er wusste nicht einmal, welche Richtung er einschlagen musste, um zum Kongresszentrum zu gelangen.
    Benjamin ging weiter, die Hände tief in den Taschen vergraben und die Kapuze des Parkas über den Kopf gezogen – in der Nähe des erschossenen Streuners wollte er nicht bleiben. An manchen Stellen ließ es sich nicht vermeiden, dass er Fußabdrücke im Schnee hinterließ, aber wenn es weiterhin so stark schneite, würden sie in wenigen Minuten unter neuem Schnee verschwinden. Mehrmals tastete er nach der Pistole, wie um sich zu vergewissern, dass sie immer noch da war und sich nicht in Luft aufgelöst hatte. Ihre Präsenz beruhigte einen Teil von ihm und erschreckte einen anderen. Sie bedeutete, dass er sich verteidigen konnte, wenn es notwendig werden sollte, aber die Leichtigkeit, mit der er von der Waffe Gebrauch gemacht hatte, deutete auf eine verborgene Seite von ihm hin. Niemand, dessen moralisch-ethische Bremsen einigermaßen funktionierten, tötete einfach so einen anderen Menschen, und außerdem musste man mit einer solchen Pistole umgehen können. Benjamin hatte die Waffe wie selbstverständlich entsichert – seine Finger hatten von ganz allein gewusst, worauf es ankam. Dagos Colt fiel ihm ein. Er hatte den Revolver nicht nur sofort erkannt, sondern auch die historischen Fakten gekannt. Woher kam dieses Wissen? Wieso wusste er über Waffen Bescheid, obwohl es in seinen bewussten Erinnerungen nichts gab, das ihn mit Revolvern und Pistolen in Verbindung brachte? Der Tod, gemeiner
Dieb … Was hatte er ihm gestohlen, als er gestorben war? Und hatte er noch mehr vergessen? War er durch den Kontakt mit dem Schatten ein zweites Mal gestorben?
    Wie lange hatte er im Rinnstein gelegen? Nur einige Minuten oder Stunden? Oder Tage?
    Benjamin war so sehr in Gedanken versunken, dass er die Veränderung in seiner Umgebung erst bemerkte, als es ihm schwerer fiel, Einzelheiten auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu erkennen, und er sich fragte, wieso es Abend wurde, obwohl doch gerade erst ein neuer Tag begonnen hatte. Vor dem mit Eisblumen verzierten Schaufenster eines leeren Ladens blieb er stehen, fröstelte trotz des dicken Parkas und beobachtete, wie sich die Wolke seines kondensierenden Atems in Düsternis verlor. Er sah in die Richtung, aus der er gekommen war – dort schien es heller zu sein. Neugierig geworden ging er weiter, hörte das leise Knirschen des Schnees unter seinen Schuhen und spürte, dass es noch kälter und dunkler wurde. Die Fenster zu beiden Seiten der Straße blieben finster. Nirgends brannte Licht, und die wenigen Gardinen, die sich hinter den Fensterscheiben zeigten, hingen in Fetzen. Hier wohnte niemand.
    Weiter vorn, wo es fast so dunkel war wie in der Nacht, öffnete sich die Straße auf der rechten Seite zu einem Platz, und als Benjamin ihn erreichte, erinnerte er sich an die erste Nacht in der Stadt, als er mit Louise unterwegs gewesen war. Sie hatte von einem »Loch« gesprochen, das vielleicht in die »Unterwelt« führte.
    Gestaltloses Schwarz wuchs aus der Mitte des Platzes, quoll über Absperrungen aus Brettern, Latten, Eisenstangen und verrosteten Blechen hinweg übers Pflaster, kroch an Hauswänden
empor und über Dächer. Die Finsternis war nicht völlig reglos; Benjamin sah lange genug hin, um in ihr ein träges, wie ein in Zeitlupe gefangenes Wogen zu erkennen.
    Die Beine trugen ihn näher, noch bevor er eine bewusste Entscheidung getroffen hatte, und mit jedem Schritt wurde es kälter. Hinter den Absperrungen, die einen sehr improvisierten Eindruck machten, klaffte ein großes Loch im Boden, mit gewölbten Rändern wie bei einem Trichter. Vielleicht sollten die Absperrungen verhindern, dass jemand dem Rand des Loches zu nahe kam und hineinstürzte.
    Auf der linken Seite ragte etwas auf, das wie eine Tribüne aussah, und von ihr führte eine Rampe zum Loch hinab. Benjamin trat noch einige Schritte näher, obwohl in seinem Kopf erste Alarmglocken zu läuten begannen, und stellte fest, dass schmale Schienen über die Rampe führten, sich an der Seite des Loches fortsetzten und in einer langen Spirale in die Tiefe reichten. Ganz oben auf der Rampe stand ein hölzerner Wagen, der einer Lore ähnelte und mit Bremsklötzen gesichert war.
    Benjamin duckte sich wider aller Vernunft durch eine Lücke in

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