Die Stadt - Roman
dagegen stieß.
»Von der Tür weg«, wies er Rebecca an. Und zu Laslo: »Wir beide machen einen kleinen Ausflug.«
»Du würdest doch nicht wirklich mit dem Ding schießen, oder?«, gurrte die Dicke.
Benjamin schoss, und die Kugel schlug dicht über Rebeccas Kopf durch die Tür. Sie ließ erschrocken das Messer fallen, duckte sich in die Ecke und presste die Hände an die Ohren.
»Zieh dir was Warmes an und komm mit«, sagte Benjamin zu Laslo und öffnete die Tür. Herrlich kühle und saubere Luft schwappte herein.
»Es gibt da ein Problem …«, begann Laslo.
»Du kriegst ein Problem hiermit, wenn du nicht sofort spurst.« Benjamin hob die Pistole und richtete sie auf Laslo.
Dreißig Sekunden später trug Laslo eine Jacke und ging vor Benjamin die Treppe hinunter. »Du machst da einen Fehler, Benjamin.«
»Das ist der übliche Spruch, wenn man eine Pistole im Rücken hat.«
»Im Ernst, Benjamin. Bitte lass mich dir erklären …«
»Da gibt es nichts zu erklären.« Sie erreichten das Ende der Treppe, schritten durch den kurzen Flur und traten nach draußen. »Wir holen Louise aus der Bibliothek.«
Es war dunkel geworden, als sie die Ruinen bei der Bibliothek erreichten. Der fahle Fleck des Mondes hing am Himmel, begleitet von kleineren Flecken, die vielleicht Sterne sein wollten, und in ihrem matten Licht sah Benjamin die Reste von Gebäuden, zwischen ihnen Ansammlungen von Schutt und Haufen aus verwittertem Holz. Es sah aus, als wäre es hier zu mehreren Explosionen gekommen und als hätte anschließend jemand halbherzig versucht aufzuräumen und Ordnung zu schaffen. Auf der linken Seite, einige Hundert Meter entfernt, führte die Schneise der Zerstörung, die Benjamin von Laurentius’ Observatorium aus gesehen hatte, zum Stadtrand, und direkt voraus ragte die Bibliothek inmitten der Ruinen auf, ein von Zerstörung umgebener unversehrter Ort. Das Gebäude mit der barocken Ornamentik und
den vier hohen Ecktürmen wirkte wie eine Mischung aus mittelalterlicher Burg und einem Lustschloss des siebzehnten oder achtzehnten Jahrhunderts. Benjamin schätzte die Breite der Front auf etwa hundert Meter, und in der Mitte führte ein großes Tor auf den Innenhof – dort war es so dunkel, dass er keine Einzelheiten erkennen konnte.
Nirgends brannte Licht. Nichts regte sich, bis auf den Staub, den der Wind aufwirbelte. Hier schien kein Schnee gefallen zu sein, und die Temperatur lag ein ganzes Stück über dem Gefrierpunkt, obwohl es Nacht geworden war. Diesen Teil der Stadt hatte der Winter noch nicht erreicht.
Benjamin stand an der Wand des letzten intakten Gebäudes vor den Ruinen, die Pistole noch immer auf Laslo gerichtet.
»Also los«, sagte er schließlich. »Zeig mir den Weg.«
Laslo ächzte leise. »Ich hab mehrmals versucht es dir zu erklären …«
»Du sollst keine Reden halten, sondern mir den sicheren Weg zur Bibliothek zeigen«, knurrte Benjamin und spürte die gleiche eiserne Entschlossenheit in sich, die er auch bei Rebecca gefühlt hatte. Es war keine fremde Rolle, in die er geschlüpft war. Die Schnelligkeit, mit der er in Rebeccas Wohnung die Pistole gezogen hatte, die Unbekümmertheit des Schusses dicht über den Kopf der dicken Frau hinweg, ohne jede Sorge, sie zu treffen — das alles war nicht aus der Not geboren, sondern ein Teil von ihm. Er verstellte sich nicht. Er handelte, wie er früher gehandelt hatte , in seinem Leben. So fühlte es sich an. Aber es schien ein anderes Leben zu sein als jenes, an das er sich erinnerte. Benjamin schob diesen Gedanke beiseite und stieß Laslo die Pistole in den Rücken. »Beweg dich.«
Laslo hob die Arme, blieb aber stehen und drehte sich halb um. »Verdammt, Benjamin, ich kenne keinen sicheren Weg. Das ist das Problem. Ich weiß nicht, wie man die Bibliothek erreichen kann, ohne die Fallen auszulösen.«
»Louise gegenüber hast du behauptet …«
»Sie hat dir davon erzählt, wie? Ich hab gelogen ! Verdammt, ich wollte sie flachlegen, und ich wusste von ihrem Interesse an der Bibliothek und den angeblichen Lebensbüchern in ihr. Sie meinte, wenn sie nicht bald das Arsenal fände, bliebe ihr nichts anderes übrig, als es mit der Bibliothek zu versuchen, um Zugang zum Supermarkt zu bekommen.«
»Du wolltest sie flachlegen, wie?«
»He, reg dich nicht auf, Benjamin. Ich meine, was auch immer zwischen dir und Louise läuft … Unsere Sache war vor deiner Zeit.«
»Du hast sie angelogen.« Zorn stieg in Benjamin auf, ein hilfloser Zorn, der
Weitere Kostenlose Bücher