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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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der Erde. Oder sind es acht? Täglich sterben Tausende von Menschen. Sie fallen Unfällen oder Krankheiten zum Opfer. Sie begehen Selbstmord oder werden umgebracht. Oder sie kippen einfach um, weil sie alt sind. Aber
hier in dieser Stadt sind nur etwa sechshundert, und es erscheinen nur selten Neue wie du. Warum?«
    »Weißt du’s?«
    »Weil unsere Seelen miteinander verbunden sind, darum.« Laurentius lehnte sich zurück und atmete den von der Pfanne kommenden Dampf tief ein. »Wir alle stehen irgendwie miteinander in Beziehung. Das weiß auch Hannibal. Er glaubt, dass uns eine Art ›große Prüfung‹ vereint, bei der die Entscheidung zwischen Himmel und Hölle fällt. Deshalb ist er so scharf auf alles, was er aus der Bibliothek bekommen kann. Es ist keine gewöhnliche Bibliothek, mein Junge. Manche der Bücher dort geben Auskunft über die Menschen in dieser Stadt – sie enthalten die Geschichte ihres Lebens. Und vielleicht steht in ihnen auch geschrieben, was jeden einzelnen von uns erwartet.«
    Plötzliches Interesse erwachte in Benjamin. »Gibt es dort auch ein Buch, das über mein Leben Auskunft gibt?«
    Laurentius hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. »Was? Oh, zweifellos. Ein interessanter Ort, die Bibliothek. Mit Büchern, die alle Fragen beantworten. Das erklärt vielleicht die vielen Fallen, die Neugierige davon abhalten sollen, sie zu betreten. Habe ich die Fallen erwähnt?« Er öffnete die Augen und beugte sich abrupt vor. »Hüte dich vor den Fallen. Sonst ergeht es dir wie Louise. Du musst einen sicheren Weg finden.«
    Dumpfer Kopfschmerz pochte hinter Benjamins Stirn.
    »Ich kriege Kopfschmerzen von dem Zeug«, sagte er und deutete zur Pfanne.
    »Die Stadt verändert sich, mein Junge.« Laurentius’ Stimme klang sehr ernst. »Es hat schon vor deiner Ankunft begonnen.
Es kriechen mehr Schatten aus dem Loch. Die Gezeiten sind stärker geworden, und der Nebel dringt weiter in die Stadt vor. Als ich von dir und Louise träumte, habe ich im Supermarkt weißes Licht gesehen, so hell, dass es die Haut verbrennt, und dann verschwand der Supermarkt.«
    »Es kam zu einem Überfall …« Benjamin verzog das Gesicht, als die Kopfschmerzen stärker wurden.
    »Ich weiß. Das meine ich nicht. Der Supermarkt könnte erneut verschwinden, für längere Zeit. Vielleicht für immer.«
    Etwas zerrte an Benjamins Gedanken, als wären es Gummibänder. Das Pochen zwischen seinen Schläfen gewann eine solche Intensität, dass er aufstand. »Ich muss frische Luft schnappen.«
    Laurentius musterte ihn nachdenklich, die Pupillen deutlich geweitet. »Ich werde versuchen heute Nacht von deinem Tod zu träumen«, sagte er. »Vielleicht kann ich dir morgen davon berichten.«
    Mit einem Presslufthammer im Kopf wankte Benjamin hinaus.

    Benjamin trat nach draußen und sah im schwachen Schein einer Öllampe, wie Schneeflocken fielen, langsam und lautlos. Die Kopfschmerzen ließen in der kalten Luft schnell nach, und er fühlte sich von einer angenehmen Leichtigkeit erfasst. Er beobachtete die fallenden Flocken und stellte sich jede einzelne von ihnen als einen Gedanken vor, erstarrt in Eis und bereit, gedacht zu werden, wenn es nur genug Wärme gab, um sie alle aus ihrer Erstarrung zu befreien.
    Ich bin bekifft, dachte er, kehrte ins Observatorium zurück und verbrachte eine geschätzte Stunde damit, durch das kleine
Teleskop zu blicken und die Stadt zu beobachten, doch der Schnee verschleierte alle Einzelheiten.
    Als er einen Blick in den Raum mit den Vitrinen und dem Ofen warf, war Laurentius nicht mehr da. Benjamin zuckte die Schultern, kehrte zu seinem Feldbett zurück, streckte sich darauf aus und lauschte, doch es gab keine leisen Stimmen, die versuchten ihm etwas zuzuflüstern. Ich verstehe die Sprache der Äpfel nicht, dachte er und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, kam das Licht eines neuen Tages durch die Fenster.

    Laurentius war verschwunden.
    Zweimal durchsuchte Benjamin alle Räume des Observatoriums und sah sogar beim Baum nach, doch es war niemand ins Geäst zu den Äpfeln geklettert. Ratlos kehrte er zum Gebäude zurück, drehte sich dann aber vor der Tür um, als ihm etwas einfiel. Mit langen Schritten eilte er durch den frischen Schnee zur Treppe. Dort fand er keine Spuren, wohl aber bei der Straße, die dreimal um den Hügel führte – der Alte hatte den längeren, sichereren Weg gewählt.
    Im Zimmer mit dem Ofen hingen noch immer Reste des würzigen Geruchs in der Luft, und auf

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