Die Stadt - Roman
dem Tisch lag der Zettel mit der Skizze der alten Fabriken und einer knappen Wegbeschreibung. Benjamin steckte ihn ein und verließ das Zimmer, als sich das dumpfe Pochen hinter seiner Stirn zu wiederholen begann.
Warum war Laurentius ohne ein Wort gegangen, ohne eine Mitteilung? Was hatte er in der vergangenen Nacht geträumt?
Benjamins Hunger war so groß, dass er einen der Äpfel aß,
wobei er darauf achtete, keinen der dunklen Kerne zu verschlucken. Dann ging er zum kleinen Teleskop, richtete es auf die Bibliothek und sah ins Okular. Louise lag noch immer im Innenhof des großen Gebäudes, in der gleichen Position wie zuvor, aber inzwischen hatten sich auch die beiden anderen schwarzen Stäbe aus ihrem Rücken gelöst.
Er bewegte das Teleskop vorsichtig und stellte fest, dass die Bibliothek von Ruinen umgeben war – eine schneefreie Schneise der Verwüstung führte von dort aus zum Stadtrand und in den Nebel. Laurentius hatte von Fallen gesprochen, und offenbar war Louise einer dieser Fallen zum Opfer gefallen, obwohl sie von den Gefahren bei der Bibliothek gewusst hatte. Wie sollte er ihr helfen, ohne genaue Kenntnis über die Fallen und ihre Wirkungsweise? Zwei Tage, hatte Laurentius gesagt. In einem Traum hatte er gesehen, dass Louise noch zwei Tage tot bleiben würde. Was bedeutete, dass Benjamin noch einen ganzen Tag auf die Rückkehr des Alten warten konnte.
Während eine blasse Sonne über den Himmel kletterte – eine Sonne, die tags zuvor den Testballon verbrannt hatte –, wanderte Benjamin von wachsender Unruhe getrieben durchs Observatorium. Als die Sonne, inzwischen heller und wieder goldgelb, ihren höchsten Stand erreichte und Laurentius noch immer nicht zurückgekehrt war, erinnerte sich Benjamin plötzlich daran, was Louise bei der ersten Fahrt mit dem Patrouillenwagen gesagt hatte. Er wollte mich zur Bibliothek bringen. Angeblich kannte er einen sicheren Weg . Laslo. Der jetzt bei Rebecca wohnte. In der Straße bei den drei Türmen.
Benjamin eilte zum Teleskop zurück, und nach kurzer Suche fand er die drei Türme, in einem Teil der Stadt, in dem es
nicht geschneit hatte. Er entdeckte den Kreisverkehr und die Straße mit dem Kopfsteinpflaster, sah sich die Hausdächer an und fand eins, auf dem eine durchsichtige Plane gespannt war, unter der Pflanzen zu wachsen schienen. Der von Velazquez erwähnte Dachgarten.
Er brauchte nicht mehr zu warten, in der Hoffnung, von Laurentius Hinweise auf die Fallen zu bekommen. Laslo kannte einen sicheren Weg zur Bibliothek.
Benjamin holte seinen Parka, der inzwischen trocken und einigermaßen sauber war, streifte ihn über, griff in die Tasche … und stellte fest, dass die Pistole fehlte. Nachdem er Laurentius hingebungsvoll verflucht hatte, machte er sich auf die Suche nach der Waffe und fand sie schließlich in dem Raum, in dem der Greis schlief, einem Zimmer mit einer großen, offenbar selbst gemalten Sternkarte an der einen Wand. Auf der anderen Seite stellten fröhliche Farben einen alten Mann dar, der eine Art Toga trug, auf einer Wolke saß und vermutlich in eine würdevolle Aura gehüllt gewesen wäre, wenn er nicht die Zunge herausgestreckt, die Daumen in den Ohren gehabt und mit den Fingern gewackelt hätte. Die Pistole lag in der obersten Schublade des Schränkchens neben dem Bett, unter ihr ein Zettel mit den gekritzelten Worten: Kleiner Scherz – viel Glück!
»Er hat es gewusst«, murmelte Benjamin und nahm die Waffe. Als er seinen Rucksack und die restlichen Konserven nicht finden konnte, steckte er einige Äpfel ein und machte sich dann auf den Weg zu Laslo.
Die Bibliothek
33
Die Sonne stand schon tief über den Dächern, als Benjamin beschloss, seinen Beobachtungsposten in einer leeren Wohnung aufzugeben. Er hatte die Fenster unter dem Dachgarten auf der anderen Straßenseite lange genug observiert, um einigermaßen sicher zu sein, dass sich dort nur zwei Personen aufhielten, und er wollte nicht noch mehr Zeit verlieren. Unten im Hauseingang zögerte er und blickte in beide Richtungen über die Straße. Nirgends regte sich etwas. Am frühen Nachmittag war die Temperatur über den Gefrierpunkt gestiegen, und das reine Weiß des Schnees hatte sich in schmutzige Nässe verwandelt. Benjamin wich den Pfützen aus, als er über die Straße huschte, vorsichtig die Eingangstür des Wohnhauses mit dem Dachgarten aufdrückte und in den Flur trat. Als er die Treppe hochging und dabei nach Stolperdrähten und dergleichen Ausschau hielt, nahm
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