Die Stadt und die Stadt
Leute, die ich gern anrufen würde«, sagte ich.
Er hatte recht. Ich stellte mir vor, ich wäre in Besźel und müsste Ul Qoma nichtsehen. In der Hälfte des Raums leben. All die Leute und die Gebäude und die Fahrzeuge ignorieren und alles andere, womit ich gelebt hatte. Bestenfalls konnte ich mich bemühen, aber irgendwann würde ich unvorsichtig werden, und Ahndung würde es wissen.
»Es war ein großer Fall«, meinte er. »Der größte überhaupt. Du wirst nie wieder einen so großen Fall bekommen.«
»Ich bin Polizist«, sagte ich. »Heiliger! Habe ich eine Wahl?«
»Natürlich. Du bist hier. Da ist Ahndung und da sind die, die Grenzbruch begehen, die uns verfallen.« Er schaute nicht mich an, sondern auf die sich überlagernden Städte.
»Gibt es unter euch Freiwillige?«
»Sich freiwillig zu melden ist ein frühes und sicheres Indiz dafür, dass man nicht geeignet ist«, antwortete er.
Wir spazierten in Richtung meiner alten Wohnung.
»Kann ich mich verabschieden? Von Kollegen, Freunden ...?«
»Nein.« Wir setzten unseren Weg fort.
»Ich bin Polizist«, sagte ich noch einmal. »Nicht ein ... nun ja. Ich arbeite nicht wie ihr.«
»Genau das wollen wir. Deshalb waren wir sehr erfreut, dass du Grenzbruch begangen hast. Die Zeiten ändern sich.«
Wie wahr. Die Methoden wären möglicherweise nicht so anders, wie ich fürchtete. Manche würden an dem traditionellen Stil von Ahndung festhalten, dem Zermürben durch Einschüchterung, der Selbstdarstellung als wandelnder Albtraum, während ich ermitteln sollte, wie ich es in meiner ganzen Dienstzeit getan hatte, Gebrauch machen von den Informationen, die wir aus dem Internet fischten, den mitgehörten Telefongesprächen in beiden Städten, dem Netzwerk der Informanten, den Mächten jenseits der Gesetze, der jahrhundertalten abergläubischen Furcht, den Hinweisen anderer Institutionen, der unpersönlichen Erscheinung, der Tatsache, dass wir nur Avatare sind. Ein neuer Besen. Jede Organisation braucht einen solchen von Zeit zu Zeit. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik.
»Ich möchte mich mit Sariska treffen. Bestimmt brauche ich euch nicht zu erklären, wer das ist. Und mit Biszaya. Ich möchte mit Corwi sprechen und Dhatt. Ich will mich verabschieden.«
Ashil schwieg eine Weile. »Das ist nicht möglich. So sind unsere Regeln. Wenn wir die nicht haben, haben wir nichts. Aber du darfst sie sehen. Sofern du selbst unsichtbar bleibst.«
Wir einigten uns auf einen Kompromiss. Ich sagte meinen ehemaligen Geliebten brieflich Adieu. Ich verriet ihnen nichts, schrieb ihnen nur, Sariska, Biszaya, dass ich sie vermissen würde. Es waren keine leeren Worte.
Meinen beiden Kollegen durfte ich mich zeigen, jedoch nicht das Wort an sie richten. Dhatt in Ul Qoma und später Corwi in Besźel konnten erkennen, dass ich mich nicht oder nicht ganz oder nicht nur in ihrer Stadt befand. Sie sprachen mich nicht an. Das Risiko war ihnen zu groß.
Dhatt sah ich, als er aus dem Büro kam. Er stutzte bei meinem Anblick und blieb stehen. Ich lehnte an einer Reklametafel neben einem Bürogebäude in Ul Qoma, hielt den Kopf gesenkt, sodass er mich erkennen konnte, nicht aber meinen Gesichtsausdruck. Ich hob grüßend die Hand in seine Richtung. Er zögerte lange, dann spreizte er die Finger, ein Winken, ohne zu winken. Ich wich zurück in den Schatten. Er ging als Erster.
Corwi saß in einem Café in Besźels Ul Qomatown. Ich musste lächeln. Sie trank den sahnigen Ul-Qoma-Tee in dem Lokal, das ich ihr gezeigt hatte. Ich beobachtete sie schon einige Sekunden aus dem Halbschatten einer Seitengasse, bevor ich merkte, dass ihr Blick genau auf mich gerichtet war. Sie wusste, ich war da, und sie war es, die mir Lebewohl signalisierte, mit der zum Gruß erhobenen Tasse. Ich sagte ihr lautlos, nur mit Lippenbewegungen, die sie nicht sehen konnte, danke für alles und viel Glück.
Ich habe viel zu lernen und keine andere Wahl, als es zu tun oder fahnenflüchtig zu werden, und niemand wird gejagt wie ein abtrünniger Ahnder. Da ich nicht als Gejagter leben möchte und auch nicht der Rache meiner neuen Gemeinschaft reduzierter, außerstädtischer Existenzen ausgeliefert sein, wähle ich das kleinere von zwei Übeln. Meine Pflicht ist nun eine andere: nicht mehr das Gesetz schützen oder ein anderes Gesetz, sondern die Unversehrtheit der unsichtbaren Grenze gewährleisten, welche das Gesetz des einen Ortes von dem Gesetz des anderen Ortes trennt.
Dies ist das Ende des
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