Die Stadt und die Sterne - Mit einem Vorwort von Gary Gibson
dem es sich nur um einen ausgefeilten Scherz oder aber auch um einen wohlkalkulierten Angriff auf einen behüteten Glauben oder Lebensstil der jeweiligen Gegenwart handelte. Bei Berücksichtigung aller Tatsachen war die Bezeichnung »Spaßmacher« berechtigt. Einst, als es noch Höfe und Könige gegeben hatte, hatte es Männer mit ähnlichen Pflichten und mit denselben Vorrechten gegeben.
»Es ist besser«, sagte Jeserac, »wenn wir offen miteinander reden. Wir wissen beide, dass Alvin einzigartig ist – dass er in Diaspar vor diesem Leben noch nie auf der Welt war. Vielleicht können Sie die Folgerungen besser erkennen als ich. Ich bezweifle, dass in dieser Stadt irgendetwas völlig ohne Vorausplanung geschieht, so dass seinem Auftreten ein Zweck zugrunde liegen muss. Ob er diesem Zweck genügen wird, weiß ich nicht, ebenso wenig, ob er gut oder böse ist. Ich kann mir nicht vorstellen, worin sein Zweck besteht.«
»Angenommen, er bezieht sich auf etwas außerhalb der Stadt Liegendes?«
Jeserac lächelte geduldig; man durfte dem Spaßmacher seinen kleinen Scherz nicht übelnehmen.
»Ich habe ihm gesagt, was dort liegt. Er weiß, dass außerhalb Diaspars nichts als Wüste existiert. Führen Sie ihn hinaus, wenn Sie das können; vielleicht wissen Sie einen Weg. Vielleicht wird er kuriert, wenn er die Wirklichkeit vor Augen hat.«
»Ich glaube, er hat sie schon gesehen«, sagte Khedron leise. Aber er sagte es zu sich selbst, nicht zu Jeserac.
»Ich bin der Meinung, dass Alvin nicht glücklich ist«, fuhr Jeserac fort. »Er hat sich nirgends angeschlossen, und das ist wohl auch nicht möglich, solange er unter dieser Besessenheit leidet. Aber schließlich ist er noch sehr jung. Vielleicht wächst er aus diesem Stadium heraus und wird ein normaler Bürger dieser Stadt.«
Jeserac versuchte, sich selbst zu beruhigen; Khedron fragte sich, ob er wirklich glaubte, was er sagte.
»Sagen Sie, Jeserac«, fragte Khedron plötzlich, »weiß Alvin, dass er nicht der erste Einzigartige ist?«
Jeserac starrte Khedron an. »Ich hätte mir denken können«, sagte er bedauernd, »dass Sie das wissen. Wie viele Einzigartige hat es denn in der Geschichte Diaspars gegeben? Waren es zehn?«
»Vierzehn«, erwiderte Khedron ohne zu zögern. »Ohne Alvin.«
»Sie verfügen über genauere Informationen als ich«, meinte Jeserac. »Vielleicht können Sie mir sagen, was mit diesen Einzigartigen geschehen ist.«
»Sie verschwanden einfach.«
»Vielen Dank, das wusste ich schon. Deswegen habe ich Alvin so wenig wie möglich über seine Vorgänger erzählt; bei seiner gegenwärtigen Stimmung würde ihm das wenig helfen. Kann ich mich auf Ihre Unterstützung verlassen?«
»Im Augenblick – ja. Ich will ihn selbst beobachten. Geheimnisse haben mich immer interessiert, und in Diaspar gibt es zu wenige davon. Außerdem könnte es sein, dass das Schicksal selbst einen Scherz vorbereitet, gegen den meine sämtlichen Bemühungen verblassen werden. Und das möchte ich miterleben.«
»Sie sprechen gerne in Rätseln«, beschwerte sich Jeserac. »Was sehen Sie denn voraus?«
»Ich bezweifle, dass meine Vermutungen besser sind als die Ihren. Aber ich glaube, weder Sie noch ich noch irgendjemand sonst in Diaspar wird Alvin aufhalten können, wenn er sich entschieden hat. Wir haben einige interessante Jahrhunderte vor uns.«
Jeserac saß lange Zeit bewegungslos in seinem Sessel, nachdem Khedrons Bild verschwunden war. Ein Gefühl der Vorahnung, wie er es noch nie empfunden hatte, bedrückte ihn schwer. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er eine Audienz beim Rat beantragen sollte – aber wäre das nicht ein wenig übertrieben? Vielleicht handelte es sich bei der ganzen Angelegenheit um einen komplizierten und geheimnisvollen Scherz Khedrons, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, warum man ihn als Zielscheibe ausersehen hatte.
Er überdachte die Angelegenheit sorgfältig und prüfte sie von jeder Seite. Nach einer Stunde traf er eine charakteristische Entscheidung.
Er wollte abwarten.
Alvin verlor keine Zeit, alles Wichtige über Khedron in Er fahrung zu bringen. Hierbei diente ihm, wie üblich, haupt sächlich Jeserac als Informationsquelle. Der alte Lehrer berichtete ihm über sein Zusammentreffen mit dem Spaßmacher und fügte die wenigen Einzelheiten hinzu, die er über die Lebensumstände des anderen wusste. Soweit so etwas in Diaspar überhaupt möglich sein konnte, war Khedron ein Einsiedler. Niemand wusste, wo er wohnte oder
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