Die Stadt und die Sterne - Mit einem Vorwort von Gary Gibson
begrüßte jedoch seinen Besucher überaus höflich und verbarg jede Spur aufkommender leichter Besorgnis.
Wenn sich in Diaspar zwei Menschen zum ersten Mal – oder auch zum hundertsten Mal – trafen, war es Gewohnheit, eine gute Stunde mit dem Austausch von Höflichkeiten zuzubringen, ehe man zur Sache kam – wenn eine solche überhaupt zu besprechen war. Khedron beleidigte Jeserac ein wenig, indem er diese Formalitäten in einer knappen Viertelstunde abhandelte und dann plötzlich sagte: »Ich möchte mit Ihnen über Alvin sprechen. Sie sind doch sein Lehrer, nicht wahr?«
»Das stimmt«, erwiderte Jeserac. »Ich sehe ihn noch immer mehrmals in der Woche – so oft er es wünscht.«
»Und würden Sie sagen, dass er ein guter Schüler war?«
Jeserac überdachte diese Frage; sie war schwer zu beantworten. Die Lehrer-Schüler-Beziehung war ungeheuer wichtig und in der Tat eine der Lebensgrundlagen Diaspars. Im Durchschnitt kamen jedes Jahr zehntausend neue Men schen auf die Welt. Ihre früheren Erinnerungen schlummerten noch, und während der ersten zwanzig Jahre ihres Lebens war für sie alles neu und seltsam. Man musste sie den Gebrauch der unzähligen Maschinen und Vorrichtungen lehren, die den Alltag beherrschten, und sie mussten sich in der kompliziertesten Gesellschaft bewegen lernen, die der Mensch jemals geschaffen hatte.
Ein Teil dieser Unterrichtung wurde von den Paaren vermittelt, die durch Auslosung als Eltern des neuen Bürgers bestimmt worden waren. Ihre Pflichten waren jedoch nicht besonders beschwerlich. Eriston und Etania hatten nur ein Drittel ihrer Zeit auf Alvins Erziehung verwendet und damit alles getan, was man von ihnen erwartete.
Jeseracs Pflichten beschränkten sich auf die mehr förmlichen Aspekte der Erziehung Alvins. Es war vorgesehen, dass ihm seine Eltern beibrachten, wie man sich in der Gesellschaft zu benehmen hatte, und dass sie ihn in einen ständig sich erweiternden Freundeskreis einführten. Sie waren für Alvins Charakter verantwortlich, Jeserac dagegen für seinen Verstand.
»Die Antwort darauf fällt mir nicht leicht«, erwiderte Jeserac. »Gewiss ist an Alvins Intelligenz nichts auszusetzen, aber viele Dinge, die ihn beschäftigen sollten, scheinen ihm völlig gleichgültig zu sein. Andererseits zeigt er Dingen gegenüber, die wir üblicherweise nicht diskutieren, eine krankhafte Neugierde.«
»Der Welt außerhalb Diaspars, zum Beispiel?«
»Ja – aber woher wissen Sie das?«
Khedron zögerte einen Augenblick; er fragte sich, wie sehr er Jeserac ins Vertrauen ziehen sollte. Er wusste, dass Jeserac freundlich war und gute Absichten hegte, aber er wusste ebenso gut, dass er ein Gefangener derselben Tabus war, denen alle Menschen in Diaspar ausgesetzt waren – alle außer Alvin.
»Ich habe es vermutet«, sagte er schließlich.
Jeserac lehnte sich bequemer in den Sessel zurück, den er eben materialisiert hatte. Hier handelte es sich um eine interessante Situation, die er so gründlich wie möglich durchdenken wollte. Er würde jedoch nicht viel erfahren, bis sich Khedron entschlossen hätte, mitzuspielen.
Er hätte voraussehen müssen, dass Alvin eines Tages Khedron begegnen würde, und zwar mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Khedron war die einzige andere Person in der Stadt, die man als exzentrisch bezeichnen konnte – und selbst diese Eigenart war von den Gründern Diaspars geplant. Vor langer Zeit hatte man erkannt, dass auch Utopia ohne Verbrechen oder Unordnung unerträglich langweilig wäre. Bei Verbrechen konnte man jedoch entsprechend ihrer Natur nicht garantieren, dass sie auf dem Niveau blieben, das das soziale Gleichgewicht verlangte. Wenn sie genehmigt und geregelt wurden, hörten sie auf, Verbrechen zu sein.
Das Amt des Spaßmachers war die Lösung – auf den ersten Blick eine naive Lösung, in Wirklichkeit äußerst scharfsinnig erdacht –, zu der die Stadtplaner gelangt waren. In der ganzen Geschichte Diaspars gab es nicht einmal zweihundert Personen, deren geistiges Vermögen sich für diese Rolle geeignet hätte. Sie besaßen gewisse Vorrechte, die sie vor den Folgen ihrer Aktionen schützten, obwohl es auch Spaßmacher gegeben hatte, die ihre Grenzen überschritten und dafür die einzige Strafe erhalten hatten, die Diaspar verhängen konnte – die Verbannung in die Zukunft, ehe das gegenwärtige Leben beendet war.
Bei seltenen und unvorhersehbaren Gelegenheiten stellte der Spaßmacher die Stadt durch irgendeinen Streich auf den Kopf, bei
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