Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
Kommission war Tschujanow. Mitglieder waren Simenkow, Woronin und der Stadtkommandant, d.h. ich.
Wodolagin (Parteisekretär, Gebiet Stalingrad): Von den ersten Minuten des Bombardements an wurde die Hauptarterie unterbrochen, mit der unsere nördliche Industrie und die Industrie unserer Stadt gespeist wurde: Auf zahlreichen Abschnitten war die 110-Kilovolt-Leitung zerrissen. Die Stadt war ohne Licht, ohne Wasser, ohne Brot. Das Verteidigungskomitee stellte uns vor die Aufgabe, der Stadt um jeden Preis Wasser zu geben. Die Brände, die überall in der Stadt wüteten, brachten die Menschen zum Ersticken, manchmal war es sehr schwierig, zur Wolga zu gelangen, um wenigstens ein bisschen Wasser zu trinken. Und wir verstanden die Aufgabe. Sie war immens wichtig und technisch schwierig. Unter unaufhörlichem Feuer aus der Luft und später bei Artillerie- und Granatwerferfeuer stürzten unsere Leute los, um die Aufgabe zu bewältigen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, eigentlich rund um die Uhr, setzten die Leute die Leitung instand. Es gab Fälle, wo ein gerade eben instand gesetzter Abschnitt gleich wieder zerstört wurde, wo Leute vom Luftdruck runtergeschleudert wurden, aus zehn bis zwölf Meter Höhe, doch nach dem ersten Schock gingen die Leute wieder los, um die Leitung instand zu setzen.
Stalingrader Kinder während eines Luftangriffs. Fotograf: L. I. Konow
Pigaljow (Vorsitzender des Sowjetkomitees, Stadt Stalingrad): Als Wasserleitung, Brotfabrik, Mühle instand gesetzt waren, begannen wir mit der Versorgung der Bevölkerung, eröffneten den Handel in Buden, organisierten in den Bezirken und im Zentrum zwei, drei Kantinen. In den Kantinen wurden Kinder mit Essen versorgt. Das Leben kam wieder etwas in Gang. Der Verkauf lief an, wir richteten in den Kellern Buden für den Verkauf von Lebensmitteln und Brot ein. Setzten uns noch ein weiteres Ziel – die Banjas instand zu setzen, das Volk zu waschen. Die Leute saßen vom 23. bis zum 28. August in Bunkern, Kellern, Gräben – sie mussten sich waschen. Wir arbeiteten zweieinhalb Tage, bauten mehrere Banjas wieder auf, setzten sie in Betrieb. Am ersten Tag besuchten etwa zweitausend Leute eine einzige Banja. Einen Tag später setzten wir eine Funkleitstelle in Betrieb, sendeten Musik vom Band. Sie klang allerdings mitten in diesem Chaos, den Bränden, der Bombardierung wie ein Trauermarsch. Wir hörten uns das einen Tag an, dann beschlossen wir, keine Musik zu senden, sondern nur die letzten Nachrichten durchzugeben. Als das Radio wieder sendete, wurden die Leute munterer. Wenn das Radio sendet, die Brotfabrik arbeitet und so weiter – dann lebt die Stadt. Die Bevölkerung fühlte sich munterer, sie spürte, es war noch nicht alles verloren. Deshalb wurden auch Radiosendungen ausgestrahlt, damit die Bevölkerung etwas zu hören bekam. […]
Im Jerman-Bezirk, im Keller von Block Nr. 7, waren zwei Frauen vier, fünf Tage verschüttet. Niemand wusste von ihnen. Zufällige Passanten hörten Stöhnen, Schreie. Man grub sie aus, holte sie lebend heraus. Ich war auch dabei. Es stellte sich heraus, dass sie den Vorsitzenden des Exekutivkomitees gut kannten und ihm vor Freude einen stürmischen Kuss gaben. […]
In einem Keller wurden Mutter und Tochter verschüttet. Die Mutter konnte man ausgraben, die Tochter war derart verschüttet, dass man sie nicht ausgraben konnte. Sie lebte, aber ihre Beine waren verschüttet, sie konnte nicht aufstehen. Einige Ingenieure fuhren hin und sagten einstimmig, man könnte sie nicht ausgraben. Ich erfuhr einige Tage später davon. Dachte, man müsste sie doch irgendwie retten. Nahm einen Ingenieur mit, ging dorthin. Er sagte, dass er die Sache angeht. Sie wurde tatsächlich ausgegraben. Als sie ausgegraben war, sang sie ein Lied. Während man sie ausgrub, sagte die Mutter völlig ruhig zu ihrer Tochter: »Wenn man dich ausgräbt, nimm ein paar Sachen mit.«
Petruchin (Militärabteilung des Parteikomitees, Gebiet Stalingrad): Einige behielten die Nerven nicht. Wie sehr die Menschen sich auch ermannten, sich zusammenrissen, sie hielten es nicht aus. Hier ist Gewöhnung trotz allem eine relative Sache.
Wenn man früher zur Fabrik fuhr, war das kein großes Ereignis, weil man oft dort war, aber wenn man jetzt hinkommt, ist es ein großes Ereignis. Die Leute begrüßen dich, als hätten sie dich ein Jahr lang nicht gesehen. Als ich zum »Roten Oktober« kam, direkt auf den Hof fuhr, da haben die Leutchen mich vielleicht begrüßt! Man
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