Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
Einschränkungen gilt das sogar für die kleinformatigen soldatischen Porträts, die von anderen Rotarmisten oder Frontfotografen hergestellt wurden. Sie vermitteln ein Bild des sprechenden Zeitzeugen, aber sie sind auch sprechender Ausdruck soldatischen Stolzes, des Bewusstseins, im Volkskrieg den eigenen Part zu erfüllen.
Der soldatische Chor
Soldaten der 308. Schützendivision.
Das Schicksal der Stadt und ihrer Einwohner
Der deutsche Angriff auf Stalingrad erfolgte mit dem erklärten Ziel der Auslöschung der Stadt und der Ausbeutung und Verschleppung der noch lebenden arbeitsfähigen Bewohner. Auf der Gegenseite befahl Stalin, die Stadt um jeden Preis zu halten, und er untersagte ausdrücklich ihre Evakuierung im Vorfeld des deutschen Angriffs. Wie sich die Stadt zur Verteidigung rüstete, bevor sie fast restlos zerstört wurde, und wie sich, um einen Gesprächsteilnehmer zu zitieren, der »Pulsschlag« von Stalingrad im Zuge der Schlacht veränderte, das veranschaulichen die hier zu einem fiktiven runden Tisch montierten Interviews, die die Historiker zwischen Januar 1943 und Januar 1944 mit Vertretern der Stadt- und Gebietsverwaltung, mit örtlichen Parteifunktionären, Werksleitern und Ingenieuren sowie mit einem Professor des Medizinischen Instituts führten.
Die Wehrmacht folgte in Stalingrad dem gleichen Schema, das den geplanten Angriffen auf Moskau und Leningrad im Herbst 1941 zugrunde lag. Vor der Besetzung einer sowjetischen Stadt war diese durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss dem Erdboden gleichzumachen. Es galt, unter allen Umständen das Leben der deutschen Soldaten zu schützen, die in die vernichtete Stadt einrücken würden. [279] Dies erklärt, warum die gesamte Luftflotte 4 mit 780 Bombern und 490 Jagdfliegern über Stalingrad zum Einsatz kam und die Stadt vom 23. August bis zum 13. September fast unaufhörlich bombardierte. [280] Das Kommando hatte Generaloberst Wolfram von Richthofen, der als Stabschef der Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg beim Luftangriff auf Guernica eine in der Geschichte neue Form des Flächenbombardements eingeführt hatte. [281] Im April 1941 befehligte von Richthofen die Bombardierung von Belgrad, bei der einigen Schätzungen zufolge 17000 Einwohner umkamen. [282] Auch für die Bombenangriffe auf Sewastopol im Sommer 1942 zeichnete er verantwortlich. Der Angriff auf Stalingrad war der gewaltigste deutsche Luftschlag an der gesamten Ostfront, er markierte einen »Kulminationspunkt in Richthofens Karriere« (Beevor). [283]
Die ersten deutschen Bomber hatten Stalingrad bereits im Oktober 1941 attackiert; im Frühjahr 1942 folgten weitere vereinzelte Angriffe. Die Bombenabwürfe nahmen in der zweiten Julihälfte zu, seitdem gab es in der Stadt fast täglich Fliegeralarm. [284] Ab Anfang Juli bereiteten Gebietsfunktionäre eine umfassende Evakuierung des frontnahen Bereichs einschließlich der Stadt vor. Im auf Panzerproduktion umgestellten Traktorenwerk, im Elektrostahlwerk »Roter Oktober« und in der Geschützfabrik »Barrikaden« waren Vertreter der kriegswirtschaftlichen Ministerien aus Moskau, die die Verlegung der Betriebe nach Osten planten. Mitte Juli ließen sich die Leiter des Stalingrader Wehrkreises, die besser als alle anderen Bewohner der Region über die militärische Lage informiert waren, zusammen mit ihren Familien ins Hinterland evakuieren. In Stalingrad blieben diese Bewegungen nicht unbemerkt, der NKWD registrierte Panik in der Bevölkerung. Es gingen Gerüchte um, dass die Deutschen vor der Stadt stünden. [285]
In der Nacht zum 20. Juli ging beim Gebiets-Parteisekretär Alexei Tschujanow ein Anruf aus dem Kreml ein. Stalin war am Apparat. Er ordnete die sofortige Rückkehr der Leiter des Wehrkreises an. Die entstandene Unruhe sei mit allen Mitteln zu bekämpfen. Stalingrad dürfe niemals dem Feind überlassen werden. Tschujanow gab diese Anweisung am nächsten Abend seinen Parteigenossen weiter. Die Kommunisten, verkündete er, trügen die Verantwortung für die Verteidigung der Stadt. [286] Stalins Anruf kam eine Woche vor dem Fall von Rostow und dem Erlass des Befehls Nr. 227. Der Befehl führte im Grunde nur die harte Linie weiter, die Stalin bei der Verteidigung von Stalingrad von Anfang an verfolgte. Alle arbeitsfähigen Stadteinwohner, die nicht ohnehin schon in der Kriegsproduktion arbeiteten, wurden zu Schanzungsarbeiten verpflichtet. Begleitet von einem Kontingent von
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