Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
Agitatoren – an einem Abschnitt betreuten 96 Politruks den Arbeitseinsatz von 4000 Stadtbewohnern –, hoben sie auf drei vorgelagerten Ringen vor der Stadt Gräben aus. Verlassen durften die Stadt nur Menschen, die zu Kriegszwecken zu evakuieren waren: 50000 verletzte Rotarmisten und das sie betreuende medizinische Personal sowie die Kinder aus allen städtischen Kinderheimen. [287] Mit einer Evakuierungsorder für alle nichtarbeitenden Frauen und deren Kinder sicherten sich die Funktionäre der Gebiets- und Stadtverwaltung die Rettung ihrer eigenen Familien, denn nur in den Familien der sowjetischen Elite konnten es sich die Frauen leisten, nicht zu arbeiten. Arbeitende Frauen durften nur zusammen mit ihren Fabriken evakuiert werden; diese mussten bis auf weiteres in Betrieb bleiben. Bis Mitte August wurden knapp 8000 Familien der städtischen Oberschicht weggebracht. Diese Vorkehrungen wurden öffentlich nicht bekanntgemacht, blieben der Stadtbevölkerung jedoch nicht verborgen. Anfragen irritierter Arbeiter brachten kommunistische Agitatoren in den Betrieben in Erklärungsnot, und es fiel ihnen schwer, die Menschen zum Durchhalten zu bewegen. In Stalingrad ging das normale Leben bis zum 22. August weiter mit Vorbereitungen für das neue Schuljahr, Kino- und Theatervorführungen vor ausverkauften Häusern und Versicherungen vonseiten der kommunistischen Herrscher, dass die Deutschen die Stadt unmöglich einnehmen würden. [288]
Wie viele Opfer der verheerende Luftangriff des 23. August und die täglichen Folgeangriffe bis zum 13. September forderten, ist umstritten. Die meisten Forscher gehen von 40000 Toten aus; diese Zahl fand auch Eingang in die Nürnberger Prozessakten. [289] Den Historikern in Stalingrad gab Stadtkommandant Wladimir Demtschenko 1943 zu Protokoll, dass die 2000 bezifferten Bombereinsätze in den Nachmittags- und Abendstunden des 23. August 10000 Menschen das Leben gekostet hätten. [290] Vielen der bei den Angriffen verwundeten Menschen konnte nicht geholfen werden, da das meiste verfügbare medizinische Personal zum nördlichen Stadtrand geschickt worden war, wohin deutsche Panzereinheiten am gleichen Nachmittag durchgebrochen waren. Auch die 8. sowjetische Luftflotte, die im Sommer 1942 insgesamt sehr ineffektiv kämpfte, war überwiegend gegen die vordringenden deutschen Panzertruppen im Einsatz und nicht über der Stadt. [291]
Brände in Stalingrad, August 1942. Fotograf: E. Jewserichin
In den späten Abendstunden des 23. August kam es in General Jerjomenkos Hauptquartier zu einem Treffen der Militärführung mit örtlichen Parteichefs und Vertretern des NKWD und der Wirtschaft. Anwesend war auch der Chef des sowjetischen Generalstabs, Alexander Wassiljewski. Auf der Tagesordnung stand die sofortige Evakuierung der Stalingrader Arbeiterschaft und die Verminung der Industrieanlagen. Nach Mitternacht rief Tschujanow Stalin an und unterrichtete ihn über die Überlegungen. Wie Jerjomenko später berichtete, untersagte Stalin nicht nur die Evakuierung, sondern auch jegliche weitere Erörterung dieser Frage mit der Begründung, dass solche Überlegungen nur defätistische Stimmungen befördern würden. [292]
Die Parteiführung verhängte am 25. August den Belagerungszustand und begann rücksichtslos gegen Plünderer in der brennenden Stadt vorzugehen. Auch die Agitationsarbeit wurde verstärkt. Das Gebietskomitee der Partei druckte in den letzten Augusttagen eine Million Flugblätter. Überall in der Stadt wurden auf Schildern oder Hauswänden Durchhaltelosungen angebracht: »Wir werden unsere Heimatstadt halten!« »Keinen Schritt zurück!« [293] Viele Menschen, die panisch der Stadt zu entkommen suchten, wurden an den vom NKWD kontrollierten Fährstellen aufgehalten. Vorrang bei der nun endlich einsetzenden Evakuierung hatten technische Spezialisten und Arbeiter, deren Betriebe niedergebrannt waren. Die Massenevakuierung der Bevölkerung wurde erst am 29. August eingeleitet, doch immer noch hatten Arbeiter Vorrang. In einigen Fällen mussten sie ihre Familienangehörigen wegen Platzmangels auf den Booten in Stalingrad zurücklassen. [294] Die Wolgafähren wurden fortwährend von den Deutschen beschossen. Am 27. August gerieten mehrere Passagierdampfer, die flüchtende Zivilisten von Stalingrad flussaufwärts nach Saratow bringen wollten, die Schiffe »Michail Kalinin,« »Gedenken an die Pariser Kommune« und »Josef Stalin«, unter
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