Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
anmerken zu lassen, wie brennend ihn das interessierte.
Polmarric warf seinem Begleiter einen warnenden Blick zu. »Bist du sicher, dass du so viel über uns erzählen willst?«
»Er muss es wissen.« Macrae wandte sich wieder Nikolai zu. »Es gibt viele Dinge, die alle Wächter bis zu einem gewissen Grad bewirken können. Wir können heilen, die Energien anderer Menschen lesen, uns abschirmen oder Licht erzeugen. Die meisten Wächter sind auch auf irgendeinem besonderen Gebiet befähigt. Ich zum Beispiel bin ein Wettermagier und kann Winde und Stürme beeinflussen. Es ist ein Talent, das in unserer Familie liegt. Mein Freund Polmarric hier verfügt über enorme Fähigkeiten auf dem Gebiet mentaler Kommunikation.«
»Ihr sagt, Ihr hättet geschworen, Menschen zu helfen. Was hindert Euch dann daran, Könige zu werden? Obwohl Ihr ja auch so schon gar nicht schlecht zu leben scheint«, sagte Nikolai mit einem vielsagenden Blick auf die aufwendige Kleidung der beiden Männer.
»Es ist schwerer, König zu werden, als manche vielleicht denken«, entgegnete Macrae ein wenig spöttisch. »Im Laufe der Jahrhunderte haben wir gelernt, dass es besser ist, sich nicht zu oft in Angelegenheiten der weltlichen Gesellschaft einzumischen, weil die Folgen unvorhersehbar sind - und gewöhnlich schlimmer, als man glaubt. Unter uns wahren wir die Ordnung durch nationale Wächterkonzile. Seiner Kommunikationstalente wegen wird Polmarric voraussichtlich ein Mitglied dieses Rates werden, sobald ein Platz frei wird. Wenn irgendeiner von uns zu einem schwarzen Schaf unter den Wächtern wird und andere verletzt ... Nun, dafür haben wir spezielle Magier, die die Fähigkeit besitzen, Böses zu entdecken und der Ordnung Geltung zu verschaffen.«
Nikolai brach ein Stück Brot ab und tunkte es in die Sauce des Kaninchenbratens. Was Macrae sagte, klang für ihn, als wären die Wächter eine große, geheime Familie, die sowohl über Macht als auch über Weisheit verfügte. In Erinnerung an seine Großmutter fragte er: »Sind die Magier alle Männer?«
»Keineswegs. Frauen können genauso mächtig oder sogar noch mächtiger als männliche Magier sein. Meine Frau zum Beispiel ist eine sehr begabte Heilerin. Und Polmarrics Gattin ist die beste Finderin in England, denke ich.« Macrae schwieg einen Moment, als überlegte er, was noch gesagt werden musste. »Die volle Macht erlangt man normalerweise erst als Erwachsener, bei außergewöhnlich Talentierten ist es allerdings nichts Ungewöhnliches, wenn sie schon in ihrer Kindheit magische Fähigkeiten erkennen lassen. Mein Sohn Duncan trägt sie in sich, und du anscheinend auch, mein Junge.«
Nikolai starrte auf seinen leeren Teller und versuchte, das Gesagte zu verarbeiten. »Warum erzählt Ihr mir das alles?«
»Weil du Hilfe zu brauchen scheinst.« Macrae sah müde aus, und Nikolai merkte jetzt, dass er älter war, als er vermutet hatte. »Es gibt zu viele heimatlose Kinder auf der Welt, um alle retten zu können. Aber du bist von unserer Art, und deshalb habe ich die Verpflichtung zu versuchen, dir zu helfen.«
»Und wie?«
»Eine Möglichkeit wäre, in einer Schule in Valletta einen Platz für dich zu suchen, wo du ernährt und gekleidet würdest und lesen und schreiben lernen könntest.«
»Ich kann schon lesen und schreiben«, erwiderte Nikolai angriffslustig.
Macraes Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Beeindruckend. Wie hast du das gelernt?«
Nikolai zuckte mit den Schultern. »Meine Großmutter hatte ein Gasthaus unten am Wasser. Dort hat sie einen sterbenden englischen Schiffsoffizier gepflegt, der mich als Gegenleistung unterrichtete. Und der alte Smithy brauchte ganz schön lange, um zu sterben.« Lange genug, um Nikolai das Rechnen, Lesen, Schreiben und sogar etwas über Geschichte beizubringen.
»Du lernst schnell«, bemerkte Polmarric. »Dein englischer Akzent hat sich während unserer Unterhaltung schon verbessert. Fast so, als könntest du die Sprache unserem Verstand entnehmen. Kannst du Gedanken lesen?«
Nikolai verzog misstrauisch das Gesicht und fragte sich, wie der Engländer das herausgefunden hatte. Er konnte nicht wirklich Gedanken lesen, aber manchmal erspürte er Antworten, die Menschen um ihn herum wussten. Und das Zusammensein mit diesen Männern, die tadelloses Englisch sprachen, verbesserte tatsächlich seine eigene Ausdrucksweise. »Smithy sagte, ich sei schlau.«
»Ein schlauer Junge mit Macht wäre in einer hiesigen Schule vielleicht nicht sicher, solange
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