Die Stasi Lebt
ungläubigen Gefühl, das Blatt der Geschichte drehe sich.
Eine denkwürdige Szene. Im Hintergrund hängt schlaff die Berlin-Fahne. Davor baut sich Gysi auf, gestrafft vor neuer Bedeutung. Modell für Fotografen, die nicht genug von ihm bekommenkönnen. Der Stimmenfänger würde am liebsten keine Parteien mehr kennen, sondern nur noch »Liebe Bürgerinnen und Bürger«, obwohl die Anrede sehr geborgt klingt. Einer wie er denkt in historischem Maßstab, erregt von der Perspektive, präsentiert er sich ausgesprochen elastisch. Heute gibt er vor Kapitalisten den besseren Kapitalisten (»keine Gewerbesteuererhöhung«), morgen vor Sozialisten den besseren Sozialisten (»Kapitalverwertungsinteressen dominieren in der Gesellschaft «) und empfiehlt sich im Gezänk ansonsten als vernünft ige Alternative. Nur keine falsche Bewegung, nur kein Triumphgeheul zur Unzeit, das seine Mission gefährden könnte. Der Kandidat ist sehr auf der Hut, sich nicht von der Unterströmung des Alten erfassen zu lassen, was sich manche Veteranen wünschen. Gysi erspart den Zuhörern jede Beglückungsidee, macht sich sogar lustig darüber, als könne er die Skepsis hinter den durchaus freundlichen Blicken ahnen. Es geht um Machterwerb, den er mit der neuen heiligen Formel unterspielt: »Sparen, sparen.« In der verfahrenen Situation dürfe das Motto nur lauten: »Wer verwaltet nichts am besten?« Er seufzt zum Mitschreiben: »Immer wenn es nichts mehr zu verteilen gibt, wird die Linke gebraucht.« Und: Es gebe ’ne Menge Probleme, aber auch ’ne Menge Chancen. Seine extrem kontrollierte Vorfreude aufs Regieren hat stets etwas Todernstes; es bleibt pikant, wer sich da auf leisen Sohlen mit welcher Tradition in die Retterrolle schleicht.
Niemand wollte Gysis Forderungen widersprechen, die Hauptstadt müsse als »nationale Aufgabe« begriffen werden. Im öffentlichen Dienst gelte es, 30 000 Stellen bis 2010 zu sparen. Von einer Romreise zurück, schwärmt er, dort gebe es 35 000, nicht wie hier 170 000 Stadtbedienstete. Nicht ungeschickt fließt ein, als Anwalt des Dirigenten Barenboim habe er den Kompetenzwirrwarr unter den Ressorts hautnah erlebt.
Sollen der Wowereit und der Steffel sich ruhig zanken wie die Kesselflicker. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Gysi. Was nach dem CDU/SPD-Pfusch passiert, hat seine eigene Logik. Gegen die PR des dritten Mannes sind beide chancenlos. Bei einer Kundgebung kreuzt sich Gysis Weg mit dem von Steffel. Der PDS-Crack fährt in der gepanzerten Limousine B-70120 vor, fast versinkt er in deren Tiefe. Auf geradezu peinigende Weise ignorieren die Kameras Steffel. Kann sich jemand vorstellen, ein Politikprofessor vom Connecticut College würde sich wegen Wowereit hierher bemühen? Aber wegen Gysi ist er gekommen. Knapp zehn Fernsehauft ritte in zwei Wochen bezeugen eine Gesellschaft sfähigkeit, die sich der Anwalt nie hätte träumen lassen.
Honeckers telegener Erbe war im Mai 1998 nach den Gesetzen politischer Kultur am Ende. Die Bundestagsdrucksache 13/10893 schien sein politisches Schicksal zu besiegeln. Es heißt darin: Der Ausschuss habe eine »inoffizielle Tätigkeit des Abg. Dr. Gregor Gysi für das Ministerium für Staatssicherheit als erwiesen festgestellt«. Man sei nach sorgfältiger Prüfung zu der Überzeugung gekommen, dass Gysi von 1975 bis 1989 in »verschiedenen Erfassungsverhältnissen beim MfS aktiv erfasst war«: »Dr. Gysi hat in dieser Zeit nachweislich bis 1986 unter verschiedenen Decknamen dem Mfs inoffiziell zugearbeitet.« Die Darstellung gipfelte darin, er habe als Anwalt bekannter Oppositioneller seine herausgehobene berufliche Stellung genutzt, um »die politische Ordnung der DDR vor seinen Mandanten zu schützen«. Gysi hat die Vorwürfe stets bestritten, Zeitungen verklagt oder mit Gegendarstellungen konfrontiert.
Der vom Parlament skizzierte obskure Hintergrund machte Gysi allenfalls noch zu einer traurigen Berühmtheit. Es hagelte Rücktrittsforderungen. Jetzt scheint alles vergessen, verjährt,vielleicht vergeben, seit er als Hefe teigiger Talkshows wirkt. Ein Th ema, das er nicht verquasseln könnte, ist noch nicht erfunden. Auf merkwürdige Weise Quotenbringer und via TV hoffähig, mischt er mit. Womöglich gereicht in der Medienwelt Undurchschaubares zum Vorteil, erhöht den Reiz; auf umrätselte Solisten lässt sich vieles projizieren. Wer dem Wahlkämpfer bei seinen Selbstbespiegelungen zusieht, gewinnt sogar den Eindruck, er agiere stets wie für einen
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