Die Statisten - Roman
auszudenken, wurde Violet ganz übel. Und dennoch: Das Geld war weg, hatte sich verflüchtigt wie der Rauch des Holzkohlenfeuers, über dem ihr legendärer Koch die portugiesischen und saraswat-brahmanischen Köstlichkeiten zubereitete, die der portugiesische Gouverneur so liebte, dass er sich regelmäÃig bei ihnen zum Abendessen einlud. Aber wie der Rauch, der lange verflogen war, hatte ihr toter Vater eine ruÃig schwarze Spur hinterlassen. Nein, sie konnte und sie würde solch himmelschreienden Lügen nicht die Ehre erweisen, sie auch nur einen Moment für wahr zu halten!
Violet fand die Haltung ihrer Mutter gegenüber den Gerüchten und dem Klatsch hinter ihrem Rücken nicht nur verwunderlich, sondern geradezu skandalös. Maria-Augusta zuckte die Achseln und sagte: âWas spielt es schon für eine Rolle, ob es wahr ist oder nicht? Ich hoffe nur, dein Vater hatte seinen SpaÃ!â
Violet traute ihren Ohren nicht. âWie kannst du nur etwas so Vulgäres und Unanständiges sagen!â
Ihre Mutter lachte. âAch, Violet, die Hälfte der Männer dieser Stadt, ob reich, arm oder Mittelschicht, haben nebenher was laufen, und keineswegs nur mit unverheirateten Frauen. Vielleicht hätte ich mir auch einen Liebhaber halten sollen.â
âHör auf, Mutter!â, sagte Violet, zunehmend gereizter.
âWarum bist du bloà so prüde, Violet! Jesus schaffte es, den Versuchungen des Teufels zu widerstehen, weil er Gottes Sohn war. Wir dagegen sind fehlbar, sehr fehlbar, und zwar aus einem einfachen Grund: Wir sind Menschen und keine Götter.â
Danach sprach Violet einige Tage kein Wort mehr mit ihrer Mutter.
Die Banken und die Geldverleiher drängten sie, das Haus zu verkaufen, um ihre Schulden zu begleichen. Maria-Augusta, die schon immer eine praktisch denkende Frau gewesen war, argumentierte, sie sollten sich eine kleine Wohnung in einem anderen Teil der Stadt suchen, bevor die Polizei mit einem Räumungsbefehl kam, und begann, den Umzug vorzubereiten.
âUnd wie stellst du dir vor, dass wir die Miete bezahlen, und was sollen wir essen, wenn wir unsere Ländereien verlieren?â, fragte Violet.
âDie Plantagen sind weg, ob uns das gefällt oder nicht. Das Gleiche gilt für das Haus. Ich kann nähen, ich glaube, ich würde sogar Hochzeitskleider hinbekommen, und das dürfte uns einiges Geld einbringen. Und du könntest Lehrerin werden, oder was immer du willst. Wir werden es schon schaffen.â
Victor Coutinho trat zu einem Zeitpunkt in ihr Leben, als Mutter und Tochter gerade am verwundbarsten waren. Sie waren in eine Zweizimmerwohnung in einem der ersten Apartmenthäuser gezogen, die in Panjim errichtet wurden. Es war ein himmelweiter Unterschied zu ihrem zweigeschossigen Siebzehn-Zimmer-Haus, und Violet fühlte sich wie der Vogel, den sie zu Hause in einem Bambuskäfig aus dem 18. Jahrhundert gehalten hatten, in dem das kleine Geschöpf nicht einmal die Flügel ausbreiten konnte. Sie war ständig ungeduldig und reizbar ihrer Mutter gegenüber, die, wie sie wusste, noch mehr litt als sie, es sich aber nicht anmerken lieÃ. Dann nahm eine von Victors Tanten mit Maria-Augusta Kontakt auf und machte ihr einen Heiratsvorschlag. Ihr Neffe beabsichtige, im November nach Goa zu kommen. Dessen Vater arbeite bei der Steuerbehörde und werde alle drei Jahre, manchmal noch öfter, in eine andere Stadt versetzt und habe deshalb seinen Sohn ins Internat gesteckt. Der Junge sei dort unglücklich gewesen und habe es seinen Eltern nie verziehen, dass sie ihn so abserviert hatten. Trotz dieser Erschwernisse habe er es geschafft, seine Ausbildung abzuschlieÃen, ein Diplom in Flugzeugbau zu machen und arbeite nun bei Air India. Er wohne in einer eigenen Bleibe in Bombay und würde bald in ein Apartment in der Air India Colony umziehen. Er wisse natürlich nicht, dass seine Tante Pläne für ihn schmiede, aber vielleicht wäre Violet interessiert, seine Bekanntschaft zu machen?
Nein, das war sie nicht. Sie war als junges Mädchen einmal in Bombay gewesen und hatte es abscheulich gefunden. Die Tante, das stand für sie auÃer Frage, hatte sich nur deswegen an ihre Mutter gewandt, weil sie vom Pferd auf den Esel gekommen waren. Die Coutinhos waren zwar ebenfalls Brahmanen, jedoch nicht entfernt so vornehm wie Violets Familie. AuÃerdem musste sich Violet um ihre Mutter kümmern; und,
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