Die Statisten - Roman
entrückt wärest, würden deine Augen fortfahren, die Misthaufen dieses unseres heillosen Landes abzugrasen!â Der Bandleader hatte sich offenbar mit dem rhetorischen Bazillus seines Berufsoptimisten angesteckt und machte da weiter, wo Kamble abgebrochen hatte. Jetzt lag zittrige Verzweiflung in seiner Stimme. âDu musst glauben, Kanhaiyyalal, an dich selbst glauben, wenn du Wunder wirken willst!â
âAber sicher. In dem Augenblick, in dem du endlich rausrückst, was du mir schuldest, glaube ich an Wunder.â
âGeld! Hat denn das Leben nichts anderes zu bieten als die Anbetung des Mammons?â Der Bandleader war gerade dabei, sich in eine Berserkerwut hineinzusteigern, als der Vater des Bräutigams ihn unterbrach.
âMit Verlaub, Mr Navare, wenn Sie mit Ihrem Gezänk und sonstigen nichtigen Angelegenheiten fertig sind, würden wir gern mit dem Hochzeitsumzug beginnen â¦â
Navare brach seine Rede wider das philisterhafte Leben und das schnöde Streben nach Geld auf Kosten von Kunst und überhaupt allem, was dem menschlichen Leben Adel verlieh, kurzerhand ab, hob die Hand und sagte: âEins, zwei, drei.â
Das war der Moment, in dem alles Leben erlosch und Ravan erwachte. Die Tatsache, dass Navare ihn weder bezahlte noch zugab, dass er sich als Mitglied der Band die Sporen verdient hatte; dass die grauenhafte ockerfarbene Uniform, die er tragen musste, ihm drei Nummern zu groà war; dass er es niemals fertigbringen würde, Eddies Schwester Pieta seine Liebe, seine jedes Vorstellungsvermögen sprengende Liebe zu gestehen; dass er keine Ahnung hatte, wo er das Geld hernehmen sollte, um sich die Kleider zu kaufen, in denen er wie sein Held Raja aussehen würde, oder wie er seine erste Chance beim Film bekommen sollte; nichts hatte noch irgendeine Bedeutung.
Ravan ergriff die Schlägel, und ihre flauschigen Filzköpfe begannen, wie das kühle Geprassel eines melodischen Regenschauers auf die Metallplatten zu fallen. Wenn man Ravans Seele sehen wollte, brauchte man nur zuzuschauen, wie seine Hände über das Xylophon wirbelten. Die zwei, Spieler und Instrument, wurden untereinander austauschbar, und es war nicht mehr zu erkennen, was was war. Er konnte einen Ton, der eigentlich längst im Ãther verhallt war, so hinausziehen, dass man ihn weiter vernahm, wie die schmerzliche Erinnerung an eine verlorene Liebe. Und mit dem Tanz seiner Schlägel beschwor er Rinnsale und Felshänge, Muren und smaragdgrüne Lagunen herauf. Mitunter spielte er mit der Melodie Verstecken, dann wieder war es so, als könnte er sich nicht von ihr trennen, und er spielte so viele Variationen von ihr, dass man hätte schwören können, er würde nie wieder zurückfinden. Doch es gelang ihm immer.
Die Schlägel liebkosten bedächtig die leicht gebogenen Metallplatten; sie flatterten über sie hinweg und tändelten mit ihnen, brachten sie dazu, wie eine Katze zu schnurren, die, auf dem Rücken liegend, die Beine nach oben gestreckt, ihre Augen vor Wonne schlieÃt. Und dann, ohne jede Vorwarnung, trommelte er ein wahres Gewitter zusammen, trieb es über alle drei Oktaven des Instruments hinauf und hinunter, schlug Wirbel von solcher Geschwindigkeit, dass seine hin und her jagenden Hände einem vor den Augen verschwammen und dabei glitzernde Gitter von Tönen und verschachtelte rhythmische Origami-Strukturen erschufen.
Ravan hatte jedes Zeitbewusstsein verloren und war überrascht festzustellen, dass sie die St. Sebastianâs School schon lange hinter sich gelassen hatten und jetzt auf Höhe der Our Lady of Gloria Church waren. Wie üblich, kam der Hochzeitsumzug nur stockend und schleppend voran. Je mehr Zeit sie brauchten, um die Laxmi Baug Hall zu erreichen, sagte sich Ravan, desto besser: Er würde länger spielen können und das war alles, was zählte.
Es war Ravans Tag, in jeder Beziehung. Zumindest hätte er es werden sollen. Doch sein Herz schien plötzlich vom Spiel abzuschweifen. Er meinte, eine Frau zu sehen, die gerade vom GemüsegroÃmarkt von Byculla zurückkam. Sie trug mehrere Jutetaschen, die von Blumenkohl, Spinat, Kohlköpfen, Auberginen und Kürbissen überquollen, und versuchte, sich durch den Hochzeitsumzug auf die andere StraÃenseite zu schlängeln. Dann war sie verschwunden. Er hatte sich offenbar getäuscht; er bearbeitete schon wieder das Xylophon mit ganzer Kraft,
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