Die Statisten - Roman
gerade zum Bankfilialleiter befördert worden ist. Und dann werden sie uns fragen: ,Und was machst du, Papa?â Beziehungsweise in meinem Fall, Mama. Ich weiÃ, was wir ihnen dann sagen werden. ,Wir sind nicht wie diese Leute, wir sind anders. Wir sind beim Film!â Ich seh dich direkt vor mir, Eddie, wie du das Fotoalbum zu einem unserer Blockbuster hervorholst. ,Da, siehst du?â, wirst du sagen. ,Das da ist Onkel Ravan!â Und dein Sohn wird die Augen zusammenkneifen und fragen: ,Wo?â, und du wirst sagen: âBist du blind? Er ist der Dreiundzwanzigste von links in der siebten Reihe, und ich bin Nummer vierzehn von rechts in der fünften. Und Tantchen Asmaan, sie ist hier â oh mein Gott, die haben sie ja völlig rausgeschnitten!â Und um die Peinlichkeit der Situation zu überspielen, wirst du ihnen sagen, dass Tantchen Asmaan schon in dreimal so viel Filmen gespielt hat wie Amitabh Bachchan und Rajesh Khanna zusammen.
Aber ihr und ich wissen es besser. Wir sind die Statisten, die Et cetera, Et cetera, Et cetera pp. Wir sind Herr und Frau Niemand. Wir sind die am Wegesrand Liegengebliebenen, die Ãberflüssigen; diejenigen, bei denen es keine Rolle spielt, ob sie tot oder lebendig sind; die Gesichtslosen, Namenlosen, die man die Masse nennt, die Allzuvielen, lauter Nullen. Bei einer Einstellung sind wir vielleicht mitten im Bild, aber es kann genauso gut passieren, dass man uns bei der Nachbearbeitung ganz aus dem Film rausschneidet. So viel zu unserer Bedeutung. Wir sind so sehr daran gewöhnt, ignoriert zu werden, nicht die zweite, sondern die neunundneunzigste Geige zu spielen, dass wir aufhören zu existieren!â
Sie hätte noch einen ganzen Tag, vielleicht eine ganze Woche lang so weiter doziert, aber Eddie unterbrach ihren Redefluss.
âDu redest nur deswegen so viel, weil du vorführen willst, wie viele Wörter du kennst, aber das ist alles Blödsinn, nur Wörter und noch mehr bedeutungslose Wörter! Ich will dir mal was sagen: Behaupte, was du willst, aber ich weiÃ, dass ich zumindest der Hauptdarsteller meines Lebens bin!â
Asmaan schaute einen Augenblick lang verdutzt, dann entspannte sich ihr Gesicht. âWow, Eddie, so hatte ich das noch nie betrachtet! Du meinst also, jeder von uns ist der Mittelpunkt seines eigenen Universums?â Sie lieà sich das durch den Kopf gehen. âTja, also das ist vielleicht ein Gedanke! Was meinst du dazu, Ravan?â
âIch weià nicht. Könnte es nicht vielleicht sein, dass ihr beide recht habt?â
Man konnte Asmaan drehen und wenden, wie man wollte, sie zu den Millionen von Kombinationen umsortieren, die die Oktave der Hindustani-Musik gestattet, und sie ergab trotzdem keinen Sinn. Sie war intelligent genug, um jeden Mann zu verunsichern und ihm Minderwertigkeitskomplexe einzuflöÃen, ihre Sprachbeherrschung war einschüchternd. Sie war geistreich und konnte richtig witzig sein, und dennoch hatte Ravan das Gefühl, dass sie es vorzog, eher sich selbst zu bestrafen als die Menschen, die sie misshandelten oder wie eine Sklavin behandelten. Aber das war noch nicht alles. Sie war der schräge Vogel im Lager der Statisten. Oder vielleicht war es auch genau umgekehrt: Sie war als Einzige authentisch. Auch sie hatte mit der Hoffnung angefangen, die nächste Sharmila Tagore, Waheeda Rehman, Hema Malini zu werden, oder wie immer sonst der momentan angesagteste weibliche Filmstar heiÃen mochte. Doch sie hatte sich von der Illusion einer groÃen und glänzenden Zukunft längst verabschiedet. Für sie ging kein goldener Sonnenball über dem Horizont auf. Sie hatte sich rasch mit der Tatsache abgefunden, dass sie eine Statistin war und auch für den Rest ihres Lebens eine sein würde. Sie erwartete von den anderen nicht, dass sie das Gleiche taten, aber das schlichte Hinnehmen ihrer Bestimmung hatte sie befreit. Deswegen war es so erfrischend, mit Asmaan zusammen zu sein, weil sie ihren Frieden mit dem Leben geschlossen hatte.
Wenn Eddie nur wieder normal werden würde, dachte Ravan, könnte es für sie drei wieder so schön sein wie früher. Sie würden zu den ironischen Liedchen, die Asmaan schrieb, Melodien improvisieren, tanzen und sich gegenseitig aufziehen, statt sich zu langweilen. Und Ravan und Eddie hätten der Frage, die sie sich zu stellen nicht trauten, aus dem Weg gehen können: Waren sie Durchreisende, oder hatten sie sich im
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