Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
Verbesserung ihrer Lebensumstände mit ihm einhergeht. Anders als Change-Manager und Berater ziehen sie keinen Nutzen aus der Veränderung um ihrer selbst willen, der Innovation als Selbstzweck.
Aller Marktforschung zum Trotz liegt die Floprate bei neu eingeführten Produkten auf einem historischen Allzeithoch. Eine gemeinsame Studie vom Markenverband, der Gesellschaft für Konsumforschung und der Brandingagentur Serviceplan aus dem Jahr 2006 kommt zum Ergebnis, dass zwei Drittel der neu eingeführten „fast moving consumer goods“ (also allem, was es im Supermarkt gibt) schon nach einem Jahr wieder aus den Regalen verschwunden ist. Die Studie beziffert das dadurch entstandene Fehlinvestment auf 10 Milliarden Euro – und das ist nur auf Deutschland bezogen.
Menschen sind Gewohnheitstiere. Besonders allergisch reagieren sie deshalb, wenn etwas Bekanntes und Vertrautes ohne ersichtliche Not verändert wird und sie sich neu zurechtfinden müssen. Als der Social-Bookmarking-Dienst Digg im Sommer 2010 ankündigungslos ein Redesign der Website live schaltete und ein Mitarbeiter der Firma es im firmeneigenen Blog arglos als „nett“ bezeichnete, hagelte es über 2500 geharnischte Kommentare. Ein treuer User etwa schrieb: „Nett – wenn mit nett kompletter Müll gemeint ist.“ Das war der Anfang vom Niedergang der Website. Auch wenn nicht jedes Facelifting derartige Abwehrreaktionen hervorruft, gilt: Es ist sehr viel leichter, treue Kunden durch ein verändertes Erscheinungsbild vor den Kopf zu stoßen, als neue damit zu gewinnen.
Die psychologische Erklärung ist relativ simpel und hört auf den Namen „mere exposure effect“: Allein dadurch, dass wir Dingen „ausgesetzt“ sind, dass wir etwas wieder und wieder sehen, wird es uns sympathischer. Jakob Nielsen, kontroverser Usability-Experte, Anwalt der Benutzerfreundlichkeit und Streiter gegen jeden unnützen Schnickschnack im Web, erklärt diesen Gewöhnungseffekt, mal wieder evolutionsbiologisch, so: „Der Mere-Exposure-Effekt ist vermutlich entstanden, um den ersten Humanoiden zu erleichtern, mit ihrer Umgebung zurechtzukommen: Sie mochten Mitglieder ihres eigenen Stammes und nicht die von anderen, sie fühlten sich auf vertrautem Grund wohler als in der Fremde. Und sie aßen lieber Nahrung, die ihnen bekannt vorkam. Alles gute Überlebensinstinkte, die sich deshalb bis in unsere Generation fortgepflanzt haben.“
Wenn das allerdings die ganze Geschichte wäre, hätte es seit der Steinzeit keinen Fortschritt geben dürfen. Es brauchte also jemanden mit guter Intuition, der das Feuer und das Rad, später das Auto und den iPod erfand – und diese Innovationen den Stammesgenossen ungefragt vorsetzte, imVertrauen darauf, dass sie die Nützlichkeit schon erkennen würden. Henry Ford, der das Fließband erfand, um das Auto zum Massenartikel zu machen, wird der Satz zugeschrieben: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.“ Und Steve Jobs, der Henry Ford des 21. Jahrhunderts, sekundiert: „It’s not the customer’s job to know what they want.“ Das sind die Heldengeschichten der Schumpeter’schen „kreativen Zerstörer“, die mit unbestechlichem Möglichkeitssinn antizipieren, was Kunden haben wollen könnten, von dem sie es selbst noch nicht wissen, die heroisch Innovationen ins Werk setzen und damit ganze Märkte volley nehmen.
Advantage: second mouse
Doch man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht. Innovationen sind ein zweischneidiges Schwert, und die meisten von ihnen floppen, je nach Branche 70 bis 80 Prozent. Auch ganze Unternehmen können floppen, nachdem sie die Tür zu einem neuen Markt aufgestoßen haben. Aus dem Radsport wissen wir, dass die, die vorpreschen, meist nicht diejenigen sind, die am Ende den Sieg einfahren. Während sich die Tempomacher verausgaben, schonen die Siegfahrer im Windschatten ihre Ressourcen. Dasselbe gilt in der Wirtschaft. Die Pioniere in einem Feld sind meist nicht diejenigen, die am Ende triumphieren und den größten Gewinn abschöpfen. Oft geraten Firmen, die anfangs eine Monopolstellung innehaben, irgendwann ins Straucheln und werden von Nachzüglern überholt.
AOL war der erste Onlinedienst, der einer breiten Masse in den USA und Europa den Zugang ins Internet ermöglichte. Um die Jahrtausendwende war AOL mit über 30 Millionen Kunden der größte Internetanbieter der Welt. Irgendwann verlor die mündig gewordene Masse die
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