Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
wir das langfristige Potenzial unterschätzen. Totgesagte leben länger: Just in dem Moment, da das Interesse einer zerstreuten Öffentlichkeit erlahmt ist und die medialen Scheinwerfer längst auf etwas anderes gerichtet sind, passiert doch noch das, womit niemand mehr gerechnet hätte.
Als Jackie Fenn, eine studierte Computerlinguistin, Mitte der 1990er Jahre zur IT-Beratungsfirma Gartner stieß, war ihr erstes Geschenk an den neuen Arbeitgeber, diesen Zusammenhang in einer schlichten, aber eingängigen Graphik zu systematisieren. Das Thema brannte ihr noch aus ihrem früheren Job als Technologieberaterin mit Schwerpunkt künstliche Intelligenz auf den Nägeln. Es ging ihr darum zu zeigen, nach welchem wiederkehrenden Muster sich aufkommende Technologienverbreiten. So entstand der Gartner Hype Cycle: Auf der x-Achse ist die Zeit ab Erfindung einer neuen Technologie abgetragen. Die y-Achse misst die öffentliche Aufmerksamkeit, die diese Technologie beanspruchen kann. Der typische Verlauf bildet das positive wie negative Überschießen der öffentlichen Erwartung ab und entspricht dem einer gedämpften Schwingung.
Zum Erfolg des Schaubildes trugen auch die schönen Namen bei, die Fenn für die einzelnen Phasen fand, die ein typischer Technologie-Hype bis zur Marktreife durchläuft: Nach einem „technologischen Auslöser“ schießt die Kurve steil hinauf bis auf den „Gipfel überzogener Erwartungen“. Es folgt der ebenso steile Absturz ins „Tal der Enttäuschungen“, bevor es über den „Pfad der Erleuchtung“ wieder flacherbergan geht, bis endlich das „Plateau der Produktivität“ erreicht ist. Das Internet selbst ist ein gutes Beispiel für diese Dramaturgie: Nach den überzogenen Erwartungen und entsprechenden Aktienkursen in der New Economy kam der tiefe Absturz. Heute befinden wir uns anscheinend auf einem robusteren Wachstumspfad, der viele der Versprechungen von damals einlöst.
Jährlich wird die Fieberkurve der Technohysterie von Gartner aktualisiert. Vergleicht man die Jahrgänge, sieht man, wie die einzelnen Trends mit unterschiedlicher Geschwindigkeit voranrücken. Während 3D-Printing gerade den Hype-Gipfel erklommen hat, befindet sich 3D-Bioprinting noch im technologischen Nukleusstadium. Während Cloud Computing gerade den Abhang hinunterschliddert und virtuelle Welten noch tief im Tal derTränen hängen, hat die Spracherkennung längst das produktive Plateau erklommen. Mittlerweile liegen angepasste Versionen für etliche Teilbranchen und Weltregionen vor. Bald 20 Jahre Nutzung des Cycles zeigen aber auch seine Grenzen auf. Einige Trends überholen andere, überspringen gar ein Stadium oder entpuppen sich nach anfänglichem Hype als komplette Rohrkrepierer.
Als Instrument der Prognostik taugt der Hype Cycle damit genauso bedingt wie traditionelle Hilfsmittel von der Kristallkugel bis zum Kaffeesatz. So wollte Jackie Fenn, mittlerweile Vizepräsidentin von Gartner, ihn allerdings auch nie verstanden wissen, eher als Werkzeug der Veranschaulichung und Bewusstmachung, als Hilfsmittel zur Mustererkennung. „Mach nicht mit, nur weil es in ist. Verpasse es nicht, nur weil es out ist“, fasst sie die Botschaft ihres Tools zum Hinter-die-Ohren-Schreiben zusammen.
Setzt man diese Brille einmal auf, dann erkennt man das Musterüberall, zum Beispiel hinter der zähflüssigen Durchsetzung von Elektroautos in Deutschland. Ein Sprecher des RWE-Konzerns gab im Februar 2013 gegenüber der Welt am Sonntag zu Protokoll: „Die anfängliche Euphorie hat der Elektromobilität nicht gutgetan. Jetzt übertreiben es viele mit dem Pessimismus.“ In Kenntnis des Hype Cycle kommt dieser Verlauf wenig überraschend.
Ron Sommer, ehemaliger Telekom-Chef und Börsenliebling, laboriert bis heute am wundersamen Aufstieg und Fall der von ihm lancierten Telekom-Volksaktie. Im April 2013 gesteht er gegenüber der ZEIT: „Ich habe vieles nicht verstanden, was damals passiert ist, weder die Steigerung auf hundert Euro noch den Fall auf acht Euro. Die enorme Dynamik rund um die T-Aktie war in beide Richtungen falsch.“ Ein Blick auf den Hype Cycle könnte ihm das Rätsel entschlüsseln helfen.
Gewohnheit rules
Woher aber kommt der Schlupf im System? Wie kommt es, dass sich die PS des Fortschritts so schlecht auf die Straße bringen lassen? Die simple Wahrheit im Hintergrund ist: Menschen mögen keinen Wandel. Besser: Sie tolerieren Wandel nur dann, wenn ein eindeutiger Nutzen und eine klar erkennbare
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