Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
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Kunstpausen
Stichwort mediales Schweigen: Zu den denkwürdigen Momenten der deutschen Fernsehgeschichte zähltein Interview im aktuellen Sportstudio des ZDF aus dem Jahr 1969, in dem der Boxer Norbert Grupe, der in den USA unter dem nom de guerre Prinz Wilhelm von Homburg auflief, den Interviewer Rainer Günzler durch sein minutenlanges Schweigen völlig aus der Fassung brachte. Günzler stellte zunehmend nervös eine Frage nach der anderen. Grupe lächelte freundlich und schwieg wie ein Stein. Er war mit der Vorberichterstattung des ZDF, in der leichte Kritik an seinen teils skurrilen Auftritten angeklungen war, nicht einverstanden gewesen und legte es bewusst darauf an, den ultimativen Eklat zu provozieren: Schweigen im TV! Das hatte die Fernsehöffentlichkeit noch nicht gesehen. Grupe wurde daraufhin mit einer lebenslangen Sperre des Verbandes Deutscher Berufsboxer belegt.
Harald Schmidt machte etwas Ähnliches, als er 1992 erstmals die große Samstagabendshow Verstehen Sie Spaß? in der ARD moderierte. Er ließ einen elektronischen Plastikroboter vor sich über die Bühne laufen und sah ungerührt etwa eine halbe Minute zu, wie der Roboter die Stufen zum Publikum hinabstürzte und hilflos mit den Beinen in der Luft strampelte. Schmidt unterlief die überzogenen Erwartungen an den großen Auftritt durch eine bewusst gesetzte und eine gefühlte Ewigkeit in die Länge gezogene Antiklimax. Von der Kritik wurde dieser magische TV-Moment seinerzeit nicht angemessen gewürdigt.
Viele Comedians setzen auf diesen Effekt. Sie verschleppen eine Pointe oder lassen eine Kunstpause quälend lang in der Luft hängen. Die Peinlichkeit eines vermeintlichen Blackouts überträgt sich auf das gespannte Publikum. Die Stille vor der Pointe, das Spiel mit dem vorenthaltenen „comic relief“, der befreienden Auflösung, enthält bereits die gesamte Komik. Die Pointe selbst muss dann gar nicht mehr komisch sein, um hysterisches Gelächter zu produzieren. „Deadpan“ nennt sich diese Form des besonders unter angelsächsischen Komikern verbreitete Form des ausgestellten Stoizismus. Frank Partnoy schreibt: „Die größten Comedians sind Meister der Verschleppung. Sie können uns eine Kunstpause mit derselben Intensität spüren lassen, die ein Rennfahrer fühlt, wenn er mit Höchstgeschwindigkeit in eine Kurve fährt. Die Zeit dehnt sich.“ Als Beispiel führt er John Stewart, den Host der Daily Show , an: „Seht her, was er macht, nachdem er den Clip einer öffentlichen Person gezeigt hat, die etwas Dummes gesagt hat: nichts . Er wartet und wartet und wartet, manchmal für fünf oder zehn Sekunden. Dann endlich, wenn die Anspannung den Höhepunkt erreichtund er das letzte bisschen aus diesen Sekunden herausgequetscht hat, fühlt er, dass es Zeit für die Entladung ist, und entlässt uns mit einer Pointe.“
Schock-Marketing
Es fürchtet sich der Witz vor der Pointe. Bei Licht besehen ist die endlos gedehnte Kunstpause ein sadistisches Spiel mit einem leicht masochistisch veranlagten Publikum. Die Lust entsteht aus der Qual, dass etwas Herbeigesehntes lange vorenthalten wird. Techno-DJs machen etwas Ähnliches, wenn sie die Crowd qualvolllange auf den Einsatz des erlösenden wummernden Basses warten lassen. Kinder haben ein ausgeprägtes Sensorium für diese Dramaturgie des retardierenden Moments: Wenn man ihnen androht, sie zu kitzeln, und das dann aber nicht tut, sondern in der Drohpose verharrt, flippen sie schier aus vor Vergnügen.
Die Wiener Medienkünstlerin und Internet-Beraterin LIZVLX hat diese Mechanik um das Jahr 2000 herum mit ihrer Agentur übermorgen.com experimentell überführt in das Konzept des „Schock-Marketings“: Stoß Deine Kunden vor den Kopf, und sie werden immer wiederkommen, weil sie die Zurückweisung nicht ertragen können. Ihr sadistischer Werkzeugkoffer reicht von der unfreundlichen Ansprache bis zu technischen Dysfunktionalitäten. Das Netzmagazin Telepolis berichtet: „Werden die User ‚Opfer‘ dieser Methode, so kann es ihnen schon einmal passieren, dass sie auf von übermorgen.com gestalteten Websites landen, die ihnen nichts weiter als ein freundliches ‚Fuck off‘ entgegenschleudern. In dieselbe Kategorie gehören Pop-up-Windows, die schlicht nicht funktionieren, also beispielsweise ins Leere oder auf eine kontextlose Seite führen.“ Der Nutzer wird durch die Zurückweisung involviert, was sich etwa in Beschwerde-Emails artikulieren kann und vielfältige Ansatzpunkte
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