Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
Spielzeug, und doch laut Illies „der beiläufigste Paradigmenwechsel der Kunstgeschichte“.
Es folgen weitere Readymades und „objets trouvés“: 1914der Flaschentrockner , ein formschönes Objekt, dass er im Pariser Kaufhaus Bazar de l’Hôtel de Ville erwarb, 1917 Fontäne , ein handelsübliches weißes Urinal aus einem Sanitärgeschäft, das er signierte und flach auf einen Sockel legte. Duchamp erfreute sich an den Eklats und Diskussionen über das Wesen der Kunst, die seine Werke produzierten, hat danach selbst aber nicht mehr allzu viel produziert. 1919 malte er noch der Mona Lisa einen Schnurrbart. Danach zog er nach New York in ein kleines Appartement, gab Französischunterricht für zwei Dollar die Stunde und widmete sich dem Schachspiel. Auch die Interpretation seiner Werke hat er lieber anderen überlassen: „Das Kuriose am Readymade ist, dass ich niemals zu einer Definition oder Erklärung gelangt bin, die mich vollends zufriedenstellte“, versetzte er seine Gefolgschaft.
Joseph Beuys, der selbst gern viel über seine Kunst dozierte, fühlte sich durch die lange Sendepause Duchamps derart provoziert, dass er 1964 bei einer Fluxus-Aktion im Rahmen einer Live-Sendung im ZDF verkündete: „Das Schweigen des Marcel Duchamp wird überbewertet.“ Genauer gesagt: Er zimmerte einen Bretterverschlag, den er mit Filz auslegte, schmierte die Ecken mit Margarine ein und wies einen Mitarbeiter an, den denkwürdigen Satz, der zum geflügelten Wort werden sollte, auf ein Stück Papier zu schreiben. Mehr Effekt als Marcel Duchamp kann man mit einem Rückzug aus der Öffentlichkeit wohl nicht erzielen.
Zauderrhythmus
Das Pendant zu Duchamps Rückzug aus der Kunst wird in der Literatur verkörpert durch J. D. Salinger. 1951 veröffentlichte er seinen heiter-melancholischen Fänger im Roggen , den ersten Pop-Roman, in dessen amerikanischer Originalausgabe 44-mal das damals unsägliche Wort „fuck“ vorkam. Das Buch machte ihn und seinen Teenager-Helden Holden Caulfield weltberühmt. Es folgten in den Jahren darauf noch zwei lange Erzählungen und eine Handvoll Kurzgeschichten. Bei diesem Output sollte es bleiben. Fast ein halbes Jahrhundert lang, bis zu seinem Tod im Jahr 2010, verschanzte sich Salinger in seinem Cottage in New Hampshire hinter hohen Grundstücksmauern und wollte von der Welt in Ruhe gelassen werden. Es existieren lediglich ein altes Schwarzweißfoto und ein paar Paparazzi-Schnappschüsse von ihm. Die letzten Lebenszeichen Salingers waren juristische Klagen, mittels derer er sich gegen Veröffentlichungen und Zudringlichkeiten neugieriger Medienvertreter zur Wehr setzte. Natürlich war es gerade die Hartnäckigkeit, mit der er seine Selbstauslöschung als öffentliche Person betrieb, die die Neugier schürte, Spekulationen über mögliche Motive ins Kraut schießen ließ und den Mythos Salinger bis nach seinem Tod zementierte.
Man weiß bis heute nicht, ob Salinger nicht mehr schreiben konnte oder – wie Marcel Duchamp – einfach nicht mehr wollte. Beim deutschen Schriftsteller Wolfgang Koeppen hingegen wissen wir es, und zwar aus den unzähligen Briefen, die er über Jahre an seinen Verleger Siegfried Unseld schrieb und in denen er den unwiderruflich und unmittelbar bevorstehenden nächsten Roman ankündigte. Die „Zusammenarbeit“ begann 1961, Koeppen hatte da schon drei erfolgreiche Romane veröffentlicht, mit der Ankündigung: „Bei mir, das lehrt mich die Erfahrung, besteht die große Chance, dass ich termingerecht oder nur wenig verspätet fertig sein werde.“ Es zieht sich hin bis in das Jahr 1966: „Manuskript? Ja. Juni. Ende Juni.“ 1971 heißt es: „Ich werde Ende April fertig sein, aber diesmal werde ich fertig sein.“ 1995 schließlich: „Lieber Siegfried, ich werde dieses Buch und auch andere Bücher fertig schreiben. Lasse mich das schreiben,störe mich nicht.“ Koeppen starb 1996, ohne einen weiteren Roman veröffentlicht zu haben – und markiert damit als Großmeister der Prokrastination den genauen Gegenpol zum strategischen Schweigen: nämlich das selbstquälerische Zaudern und Zögern inklusive der zermarternden Selbstvorspiegelung falscher Tatsachen.
Auch eine Schaffenskrise lässt sich im Sinne der Stein-Strategie wirkungsvoll in Szene setzen.Koeppens Problem jedoch war, dass er seinem eigenen Selbstbetrug aufsaß und seine Schreibblockade nur mit seinem Verleger aushandelte. Die Außenwelt nahm keine Notizdavon.Irgendwann wartete niemand mehr auf
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