Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
den neuen Koeppen-Roman. Der Schriftsteller Rainald Goetz hat es hingegen verstanden – nach erfolgreicher Positionierung als Nachwuchshoffnung der deutschen Literatur in den 1980ern und Ausflügen in Pop und Techno in den 1990ern –, sein Hadern und Laborieren am großen Romanprojekt wirkungsvoll auszustellen und die Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen. Fast die gesamten Nullerjahre hindurch litt das geneigte Feuilleton mit am – teilweise im Weblog „Klage“ ausgebreiteten – poetologischen Problem des Rainald Goetz, die Berliner Republik als „Ziegelstein“ zwischen zwei Buchdeckel zu packen. Der Berg kreißte und gebar am Ende 2012 mit Johann Holtrop zwar nicht die neuen Buddenbrooks aber doch ein achtbares Psychogramm der testosterongetriebenen Managerkaste heutiger Medien-Großkonzerne. So geht’s doch.
Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl schreibt in seiner Abhandlung Über das Zaudern : „Im Unterschied zu verwandten Spielarten wie Unentschlossenheit, Trägheit, Ratlosigkeit Willensschwäche oder bloßem Nichtstun liegt es fernab stabiler und labiler Gleichgewichtszustände, es hat vielmehr einen meta-stabilen Charakter und lässt gegenstrebige Impulse immer von Neuem einander initiieren, entfesseln und hemmen zugleich.“ Das Zaudern hat mit anderen Worten etwas Produktives und durchaus seine Berechtigung im kreativen Schaffensprozess. Anders als in Systemen wie Wirtschaft, Politik oder Militär, wo das Primat der Tat zählt, ist das Zaudern integrale Zutat des künstlerischen Werks – und nicht allein dessen Verhinderer. Das Werk setzt sich zusammen aus abwechselnden Phasen der Vollstreckung und des Zauderns – Sigmund Freud sprach in Bezug auf seine Arbeitsweise vom „Zauderrythmus“ –, beide Seiten bedingen und durchdringen einander, wie Joseph Vogl weiter ausführt: „Das Zaudern begleitet den Imperativ des Handelns und der Bewerkstelligung wie ein Schatten, man könnte hier von einer Zauder-Funktion sprechen: Wo Taten sich manifestieren und Handlungsketten sich organisieren, wird ein Stocken, eine Pause, ein Anhalten, eine Unterbrechung markiert.“
Wir müssen lernen zu akzeptieren, dass Phasen des Zaudernsund Innehaltens, des Rückzugs und Schweigens notwendige Bedingung und Bestandteil nicht nur der Kunst, sondern von Produktivität überhaupt sind. Über den richtigen Moment, den die griechischen Philosophen als Kairos kannten, schreiben Sascha Lobo und Kathrin Passig in ihrer klugen Apologie der Prokrastination Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin : „Es gibt ihn, und ihm wohnt genau jene Kraft inne, von der man immer geträumt hat. Leider ist er ein scheues Wesen, das sich nicht beliebig und zu jeder Aufgabe anlocken lässt.“
Der Weg der Stein-Strategie sieht für den Fall also vor: abwarten und den Dingen ihren Lauf lassen. In der umgangssprachlichen englischen Redewendung „You try too hard!“ steckt die Erkenntnis,dass man vieles, insbesondere im Bereich kreativen Schaffens, nicht erzwingen kann. „Things fall into places“ – Dinge fallen an Orte, wenn der günstige Zeitpunkt dafür gekommen ist. Oder, wie die DDR-Rockband Puhdys operativ nicht zu 100 Prozent nachvollziehbar, dafür mit einem umso schöneren Text von Ulrich Plenzdorf gesungen hat: „Jegliches hat seine Zeit/Steine sammeln, Steine zerstreuen.“
Tun und Lassen
An dieser Stelle ist ein günstiger Zeitpunkt, einmal kurz innezuhalten und uns der philosophischen Frage nach dem Wesen des Nicht-Handelns zu widmen. Es dürfte klar geworden sein, dass Nicht-Handeln etwas anderes ist als Nichtstun, Faulenzen und Müßiggang, nämlich etwas Intentionales, Absichtsvolles und Strategisches. Aber ist Nicht-Handeln dann nicht eigentlich auch Handeln? Und warum wird es moralisch so anders bewertet? Warum hat Nicht-Handeln so einen schlechten Ruf?
Der Philosoph Dieter Birnbacher widmet der Frage nach Tun und Unterlassen eine umfangreiche Abhandlung, die auch Stellung bezieht zu akuten Problemen wie der Aktivierung Langzeitarbeitsloser oder der Frage nach aktiver oder passiver Sterbehilfe. Zunächst klärt er noch einmal gründlich, was mit Unterlassen gemeint ist. Damit man bei einer Person A von Unterlassen sprechen kann, muss laut Birnbacher erfüllt sein, dass A eine bestimmte Handlung nicht ausführt. Das ist aber nur die notwendige Bedingung. Als hinreichende muss dazukommen, dass A die Handlung durchaus ausführen könnte: „Die erste Bedingung kann in Fällen
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